Bullet Boys
fühlte er sich wohl, allein mit Gaffer und seinem Gewehr. Keine Scheiß-Schule. Die interessierte ihn einfach nicht. Alex guckte schon seit Jahren kein Fernsehen mehr und machte sich auch nicht die Mühe, Dads Zeitung zu lesen. Er interessierte sich weder für Kriege in anderen Ländern noch für die Höhe der Einkommenssteuer oder für die Anzahl der Schulen, die geschlossen wurden.
Er wollte einfach nur in Frieden gelassen werden undseine Arbeit machen. Kein Wunder, dass Dad ihn »Alter« genannt hatte.
In seiner Tasche steckte der Geburtstagsbrief. Seit dem Geburtstag hatte Alex ihn drei oder vier Mal gelesen. Die Briefe waren immer bittersüß. Seine Mutter schrieb über Tim und darüber, was sie sich vorstellte, was Alex vielleicht gerade täte. Sie erzählte ihm Geschichten aus ihrer Vergangenheit. Und jedes Mal, in jedem Brief, sagte sie Alex, wie sehr sie ihn liebe.
Alex setzte sich auf einen Granitbrocken und faltete den Brief auseinander. Gaffer stromerte derweil schwanzwedelnd durch den Ginster, schnüffelte und schnaufte. Der Brief war drei Seiten lang, gespickt mit Witzen, einem Rezept für Zitronenkuchen (dazu die Erklärung, dass Alex damit Mädchen würde beeindrucken können) und mit der Geschichte, die er immer und immer wieder lesen musste:
Dein Dad hat über meine Hasengeschichte immer gelacht,
aber glaube mir, Hasen haben wirklich Zauberkräfte. Als
ich meine Diagnose bekam, gaben mir die Ärzte sechs
Monate. Du warst erst zwei Jahre alt. Ich machte einen
langen Spaziergang, alleine, und da sah ich einen Hasen,
unten in Golden Combe. Er kam ganz nahe an mich heran
und ich schwöre, die Zeit stand still. Ich schwöre, der Wind
hielt die Luft an und die Vögel schwiegen. Es war wie ein
Zauber. In dieser kurzen Starre bat ich den Hasen laut um
mehr Zeit, und ich bin so verrückt zu glauben, dass das
der Grund ist, warum ich dir jetzt, drei Jahre danach,
immer noch schreiben kann. Der Hase hat mir meinen
Wunsch erfüllt. Ich habe lange genug gelebt, dass du dich
an mich erinnern kannst, und das ist ein Geschenk.
Alex seufzte und Gaffer stellte eines seiner tauben Ohren auf. Als Alex’ Mutter starb, war Alex erst fünf. Er erinnerte sich an sie, aber manchmal wusste er nicht mehr, ob die Erinnerung echt war oder ob es nicht eher die Fotos und Briefe und Geschichten seines Vaters waren, die sein Bild von ihr bestimmten. Sie war mit achtundzwanzig gestorben, an Lungenkrebs, obwohl sie nie geraucht hatte. In einer Schublade im Wohnzimmer lag ein Fotoalbum mit Bildern von seiner Mutter. Sie würde ewig jung bleiben. Alex atmete tief durch. Er war doch darüber hinweg, oder? Alex fand, dass er im Grunde ganz gut klarkam, aber dennoch hing die Trauer an jedem Tag, in jeder Stunde wie eine dunkle Wolke über ihm. An einigen Tagen größer und kälter als an anderen. Alex faltete die Seiten zusammen und steckte sie weg. Dieser Brief zu seinem achtzehnten Geburtstag war der letzte, den sie geschafft hatte. Danach war es ihr zu schlecht zum Schreiben gegangen. Jetzt würde er nichts Neues mehr von ihr bekommen. Sie war endgültig weg. Alex war wirklich auf sich gestellt.
»Erinnerst du dich an deine Mutter?«, fragte Alex Gaffer. Der Hund antwortete mit einem tiefen Wuff.
»Also ja«, sagte Alex. Er richtete sein Gewehr auf einen dunklen Fleck am Himmel und schoss. Daneben. Als der Rabe über seinen Kopf flog, sicherte Alex seine Waffe und ging weiter. Egal. Er war sowieso nicht mit ganzem Herzen dabei.
Er war etwa eine Stunde lang gelaufen, als er auf der Schotterstraße oberhalb von ihm ein kleines weißes Auto fahren sah. Das Auto hielt an einem Rastplatz, die Leute stiegen aus. Wenn Alex Touristen oder Wanderer sah, verschmolz er normalerweise einfach mit der Landschaft, aberder Rastplatz lag direkt an seinem Weg und Alex hatte keine Lust, einen längeren Umweg zu machen. Er biss die Zähne zusammen, machte den Reißverschluss seiner Gewehrhülle zu und hängte sich das Gewehr über die Schulter. Als er näher kam, sah er, dass es zwei Frauen waren, eine von ihnen hatte ein Kind auf dem Arm. Die andere winkte.
»Hey, Alex, bist du das?«
Alex blieb stehen, dann winkte er zurück. Es war Sasha aus seinem Geografiekurs. Sie hatte ein Kind bekommen (es musste dieses hier sein). Offenbar schwänzte auch sie die Schule. Er hatte noch nicht oft mit ihr gesprochen, obwohl sie eine gute Freundin von Levi war. Sasha war eine, die man einfach andauernd angucken musste.
Und jetzt hatte Alex
Weitere Kostenlose Bücher