Bullet Catcher - St. Claire, R: Bullet Catcher
die Möbel aus unbehandeltem Holz und die hellen Wandbehänge aus Wolle kaum erkennen.
Niemand war hier.
Am entgegengesetzten Ende des Raumes war eine Tür mit einer Jademaske – der Zugang zur Treppe. Als Fluchtweg blieb von oben aus nur ein Sprung über vier Stockwerke auf den steinernen Tempel herab. Oder gab es noch einen anderen Ausweg?
Die Tür war nicht verschlossen. Überrascht trat er in die Dunkelheit des Treppenhauses, die Waffe im Anschlag und den Finger am Abzug. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, dann erkannte er die Reliefs an der Wand und eine enge Treppe, die sich nach oben wand wie die Wendeltreppen mittelalterlicher Burgen. Er folgte ihr lautlos nach oben, wobei er bei jedem Schritt damit rechnete, in den Lauf einer Waffe zu blicken.
Doch nichts geschah.
Oben endete die Treppe an einer kleinen Holztür ohne Knauf und Schloss. Wenn er schoss, hätte er womöglich im nächsten Moment eine Gewehrkugel in der Brust. Aber wenn er nicht selbst angriff, wäre er vermutlich auch sofort tot.
Um Schwung zu holen, stützte er sich am Boden ab und warf sich mit erhobener Waffe gegen die Tür, die sofort aufsprang.
Victor Blake schnellte herum, erblickte die Pistole, die auf sein Herz gerichtet war, und ließ sein Gewehr fallen. »Nicht schießen!«, brachte er heraus.
Nichts leichter als das.
Fletch trat auf die Aussichtsplattform hinaus, die kaum drei Quadratmeter groß war und an drei Seiten nur von einer hohen Brüstung umschlossen war, sodass man einen weiten Blick auf den Dschungel hatte. »Warum nicht? Sie haben auf mich geschossen.«
»Ich bin auf der Jagd.«
Fletch blieb fast die Luft weg. »Nach Hausgästen?«
»Was wollen Sie, Fletcher?«
»Ihre Frau. Wo ist sie?«
»Meine Frau ist vor zwanzig Jahren an einem Hirntumor gestorben.«
So, er wollte also Spielchen spielen. Fletch nicht. »Ich meine Taliña. Oder nennen Sie sie Juanita?«
Als Victor nur stumm die Kiefer zusammenpresste, hob Fletch die Pistole und zielte zwischen seine Augen. »Ich habe nichts zu verlieren, Kumpel. Sie sind derjenige, der Leute im Internet abzockt. Sie sind derjenige, der damit rechnen muss, wegen eines Bombenanschlags in einer kalifornischen Großstadt angeklagt zu werden. Niemand würde sich beschweren, wenn ich jetzt abdrücke. Wo ist Taliña?«
»Wo sie immer ist. Irgendwo versteckt im Dschungel.«
»Beim Blutopfer?«
Er befeuchtete seine Lippen. »Schon möglich. Sie ist eine vielschichtige Persönlichkeit.«
»In Mexiko ist sie eine gesuchte Verbrecherin. Aber das wissen Sie ja.«
»Sie ist nicht meine Frau.« Blake hob provozierend eine Braue.
»Und doch haben Sie mich genau das glauben lassen. Warum?«
Blake grinste höhnisch. »Was Sie denken, ist mir völlig egal. Sie sind mir völlig egal.«
»Nun, ich halte Ihnen eine Pistole ins Gesicht, und meine Geduld ist bald zu Ende. Also noch mal: Wo ist sie?«
»Vermutlich … ist sie mit ihrem Mann zusammen.«
Fletch machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, und Blake hob abwehrend beide Hände. »Mein Sohn«, fügte er hinzu. »Sie ist mit meinem Sohn zusammen.«
»Ihr Sohn … ?«
»… ist derjenige, dem Sie die Waffe ins Gesicht halten sollten«, sagte er in verächtlichem Ton. »Victor ist der führende Kopf. Er ist der Fanatiker mit dem nötigen Ehrgeiz und den besten Ideen. Taliña und ich arbeiten nur für ihn.«
Fletch blickte über das Blätterdach des künstlichen Regenwaldes. Von Rauch war nichts mehr zu sehen. Wie lange war Miranda schon allein? Und wo steckte Cordell mit seinem Helikopter?
»Sie sind ihm vor ein paar Tagen begegnet«, sagte Blake, als würde das beweisen, dass er nicht log. »Ich bin überrascht, dass Ihnen die Ähnlichkeit nicht aufgefallen ist.«
Fletch starrte den aufgeblasenen ältlichen Typ mit dem grauen Haar und Hängebacken an und suchte vergeblich in seinem Gesicht nach Zügen, die ihm bekannt vorkamen. »War er hier, auf Ihrer Party?«
»Wer Victor junior mal gesehen hat, vergisst ihn meist nicht mehr«, fuhr Blake fort. »Er ist voller Leidenschaft und Überzeugung. Sein Interesse für Geschichte kam auf, nachdem seine Mutter gestorben war. Vermutlich fehlte ihm plötzlich der Halt, er fühlte sich verloren, ganz normal für einen Zehnjährigen … da fing das an mit seiner Begeisterung für versunkene Kulturen. Zunächst habe ich das noch unterstützt, aber dann … « Seine Stimme wurde schwächer, und er lehnte sich zurück, weg von der Waffe, die
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