Bullet Catcher - St. Claire, R: Bullet Catcher
schwarzen, gestochen scharfen Lettern ein Schriftzeichen gemalt.
»Was ist das?«, wollte Adrien wissen und deutete auf die konzentrischen Kreise über einer stilisierten Hand mit vier Fingern, in deren Innenfläche ein Dorn steckte.
»Es ist ein Symbol. Genau genommen ein Maya-Symbol, ziemlich gut getroffen.«
»Was bedeutet es?«
»Es ist das Schriftzeichen für ›Opfer‹. Man bittet die Götter damit um etwas.« Miranda schluckte, als ihr Blick auf die untere Hälfte der Seite fiel. Für die meisten Menschen wären es nichts als Kritzeleien gewesen, Formen, Punkte, grob gezeichnete Motive. Doch Miranda konnte das Maya-Alphabet ebenso gut lesen wie ihren eigenen Namen.
Und genau der stand dort.
Darunter reihten sich sechs Ziffern, je zwei durch Punkte voneinander getrennt. Sie deutete auf die Zahlen und flüsterte: »Das Datum von gestern. Er wollte mich gestern opfern.«
Die Praktikantin der Charleston Post and Courier war wesentlich hübscher und jünger, als Jack nach den Telefonaten mit ihr gedacht hatte. Sie hatte ihm am Telefon bereitwillig seine Fragen beantwortet und nicht zuletzt dafür gesorgt, dass er die Bibliothek der Zeitung an einem Montag besuchen konnte, obwohl sie an diesem Tag für die Öffentlichkeit geschlossen war. Die junge Frau studierte Journalistik, hatte ihm aber bei einem ihrer ersten Telefonate verraten, dass sie sich durchaus vorstellen könnte, als Privatdetektivin zu arbeiten.
Als sie am Pförtnerhäuschen auf ihn zukam, um ihn zu begrüßen, tat es ihm sofort leid, dass er selbst leider keine Praktikantinnen einstellen konnte. Sie bestand im Wesentlichen aus Beinen und Haar und trug ein richtig süßes Lächeln im Gesicht und am Leib einen richtig kurzen Rock und einen richtig engen Pulli.
»Mr Culver?« Sie streckte ihm die Hand entgegen und entblößte dabei ihr von Daddys Geld großzügig korrigiertes Gebiss. »Ich bin Toni Hastings.«
Die Redaktion war an diesem wie wahrscheinlich an jedem Montagmorgen nur spärlich besetzt, und Jacks Gegenwart wurde kaum zur Kenntnis genommen. Die wenigen anwesenden Redakteure gingen beim Kaffee ihre E-Mails durch und bereiteten sich auf die bevorstehende Woche vor. Mit strahlendem Lächeln ging Toni zwischen den Stellwänden hindurch vor ihm her, warf sich dabei die Mähne über die Schultern und führte ihn unter angeregtem Geplauder bis zu der Doppelglastür der im Dunkeln liegenden Bibliothek.
»Wie gesagt, montags ist kein Bibliothekar da«, entschuldigte sie sich. »Aber ich kann Ihnen gerne weiterhelfen, wenn Sie wissen, wonach Sie suchen.«
Allerdings. Wanda Sloanes Ermordung und der anschließende Prozess gegen Eileen Stafford waren keine Sensation gewesen, doch mit Sicherheit war in der Lokalzeitung darüber berichtet worden. Und aus Erfahrung wusste er: Polizei und Justiz verfügten bei einem solchen Fall zwar über die Fakten, aber was die Leute dazu dachten, spiegelte sich in den Medien wider.
»Fotos und Videoaufnahmen sind hier drin«, sagte sie und deutete auf einen Archivschrank. »Darin befinden sich auch sämtliche Texte, die vor der Umstellung auf Computer geschrieben wurden, entweder als Originalkopie oder auf Mikrofiche. Kann sein, dass Sie ein bisschen herumwühlen müssen.«
Er nickte und warf seinen Rucksack auf einen Stuhl. »Herumwühlen ist mein Spezialgebiet.«
»Meine Durchwahl ist sechs-vier-fünf. Sie können diesen Apparat benutzen.«
»Danke. Ich rufe Sie an, wenn ich Hilfe brauche.«
Drei Stunden später streckte und dehnte er sich seufzend und schob einen dreißig Jahre alten Leitartikel beiseite.
Er hatte den ganzen Vormittag über nichts erfahren, was er nicht schon vorher gewusst hatte.
Die Prozessakten hatte er natürlich schon gelesen, und dass sie relativ trocken und wenig erhellend sein würden, hatte er erwartet. Doch die Zeitung war noch schlimmer. Es war, als wäre jedes Wort, das je über diesen Prozess geschrieben worden war, zensiert. Okay, es war kein Jahrhundertprozess gewesen, außerdem hatte die Stadt Charleston zu der Zeit kurz vor dem Bankrott gestanden.
Nichtsdestotrotz – wieso hatte kein einziger neugieriger Reporter hinterfragt, dass Eileen sich angeblich von dem neuen Mädchen bedroht fühlte, weil diese ihr den Job als Schreibkraft bei Gericht streitig machen wollte? War das nicht ein viel zu laues Motiv? Wieso hatte niemand hinterfragt, dass der Staatsanwalt sich auf einen alles andere als stichhaltigen Beweis gestützt hatte und der einzige Augenzeuge
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