Burgfrieden
letzten Jahr am Gymnasium in Bozen kennengelernt. Nach einem kurzen Flirt hatten sie sich aus den Augen verloren, waren sich aber in Salzburg, wo er studierte und sie das Fremdenverkehrscollege besuchte, wiederbegegnet. Sie wurden ein Paar, bald folgte die Verlobung. Christa kehrte ins Hotel ihres Vaters zurück, und es war ausgemacht, dass sie heiraten würden, sobald Lenz sein Studium beendet hatte.
Doch es kam anders. Lenz genoss das Studentenleben in Salzburg. Auch seine poetischen Ambitionen schienen fern der Heimat wesentlich besser zu gedeihen als an den fruchtbaren Hängen St. Magdalenas. Als ihm Arthur nach Abschluss des Lehramtsstudiums die Stelle als Assistent anbot, war für Lenz die Entscheidung klar: Er wollte noch zwei Jahre an der Uni bleiben, seine Dissertation schreiben und dann nach Bozen zurückkehren. Für ihn war die Heirat mit Christa damit nicht aufgehoben, sondern lediglich aufgeschoben.
Genau das sagte er ihr auch bei seinem darauf folgenden Besuch in ihrem Hotel am Ritten. Doch er hatte die Rechnung ohne seine Auserwählte gemacht. Die dachte gar nicht daran zu warten. Alle ihre Freundinnen seien unter der Haube, hätten sogar schon Babys, nur sie könne weder das eine noch das andere vorweisen. Lenz versuchte, seine Verlobte zu beschwichtigen, aber es gelang ihm nicht. So stritten sie sich etwa eine Stunde lang, während sich Christa aus der Weinflasche, die sie eigens zur Feier des Wiedersehens geöffnet hatte, kräftig bediente. Als Lenz sie dann auch noch bat, nicht so viel zu trinken – »Hilft das ja nicht weiter« – brachte er damit das Fass zum Überlaufen. Christa schnappte sich die Schlüssel ihres Alfa Romeo, sprang in den Wagen und brauste den Berg hinunter. Lenz folgte ihr in seiner wesentlich weniger prestigeträchtigen Studentenschüssel in gebührendem Abstand. Er wollte sie keineswegs noch mehr in Rage bringen, aber da sein, wenn sie sich beruhigen und das Fahrzeug zum Stoppen bringen würde. Kurzfristig hatte er ihren Wagen aus den Augen verloren, als er plötzlich wieder vor ihm auftauchte, allerdings nicht auf der Straße fahrend, sondern sich mehrmals überschlagend über eine Böschung hinunterstürzend.
»Hat Christa das Unglück nicht überlebt. Gibt ihr Vater mir die Schuld. Bin ich seither nicht mehr nach Bozen zurück. Erst jetzt wieder. Und heute, da oben, das Grab …« Lenz war es sichtlich schwergefallen weiterzusprechen. Jenny hatte ihn getröstet, so gut sie es vermochte – und dann, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, das Gespräch auf die Handschrift gelenkt. So hatten sie gemeinsam ihre Theorie über die Täterschaft von Botsch geschmiedet, die sie Arthur unterbreitet hatten und die angesichts der neuesten Erkenntnisse wieder ins Wanken geraten war.
Wie dem auch sein mochte, sie hätte nicht so schroff auf Lenz’ harmlose Äußerung reagieren dürfen. Sie war halt schon müde und überreizt gewesen – und hungrig. Jetzt, nachdem sie sich geduscht, umgekleidet und ausreichend gestärkt hatte, sah die Welt für sie anders aus. Gerne hätte sie sich wieder mit Lenz versöhnt. Beim Abendessen hatte sie den Augenkontakt zu ihm gesucht, doch er war ihr ausgewichen.
Sie überlegte schon, ob sie ihn in seinem Zimmer aufsuchen sollte, als ihr eine bessere Idee kam. Sie würde im Garten nach ihm Ausschau halten. Der Abend war wieder lau geworden, und es war durchaus möglich, dass Lenz draußen noch einen Spaziergang machte. Sie würde wie zufällig daher schlendern und sich ihm anschließen.
Jenny war schon auf dem Weg ins Badezimmer, um ihr Aussehen zu überprüfen, als sie von draußen ein knirschendes Geräusch hörte: Reifen auf Kies. Rasch trat sie auf den Balkon – und sah gerade noch ein rotes Rücklicht, das sich rasch zur Talfer hin entfernte. Ein Blick an die Hauswand neben der Verandatür verschaffte Jenny Klarheit: Ihr Rad stand noch dort, wo sie es heute nach der Reparatur angelehnt hatte. Das von Lenz hingegen fehlte.
Ohne auch nur eine Sekunde verstreichen zu lassen, schnappte Jenny ihren Helm und raste die Treppen hinunter. So schnell ließ sie sich nicht abschütteln. Was immer Lenz vorhatte, sie würde es herausfinden.
Zwölf
Das Pendel der Standuhr schlug die volle Stunde. Arthur sah von seiner Lektüre hoch: neun Uhr Abend. Seit 20 Minuten saß er nun wieder hier in der Bibliothek und wartete. Er hatte die Hoffnung, dass der Täter sich freiwillig melden und das Manuskript zurückgeben würde, noch nicht aufgegeben. Ja,
Weitere Kostenlose Bücher