Burgfrieden
Burghof gebraucht hätte? Während des Essens vermutlich schon, aber nicht während der Schlägerei und dem anschließenden Auftritt Mordreds. Ab dem Augenblick, wo Lukas blutend in der Ecke gelegen hat, haben sich die Ereignisse überschlagen. Niemandem wäre es aufgefallen, wenn jemand währenddessen hinausgegangen und eine Zeitlang nicht wiedergekommen wäre.«
Jenny drückte die Stopptaste ihres Diktiergerätes. Suchend sah sie sich in ihrem Zimmer in der Villa Wasserschloss um, als könne sie die Lösung des Falles in dem zarten Blütenmuster der Tapete finden. Wie gut, dass sie ihr Memo dabei hatte. Normalerweise verwendete sie es, um Meetings und Interviews aufzuzeichnen. Aber auch auf Reisen hatte sich das Gerät schon mehrfach zum Festhalten von Eindrücken und Ideen als nützlich erwiesen. Jetzt benutzte Jenny es, um das Sammelsurium aus Fakten und Mutmaßungen zu strukturieren. Sie mochte es nicht, wenn die Gedanken in ihrem Kopf wild durcheinanderpurzelten. Das Memo half ihr, Ordnung in das Chaos zu bringen.
»Arthur und der Burgdirektor haben vereinbart, dem Dieb noch eine Chance zu geben. Wenn die Handschrift heute Abend zurückgegeben wird, verzichtet Botsch darauf, die Polizei zu verständigen. Außerdem sichern Botsch und Arthur der betreffenden Person absolute Anonymität zu, und es wird auch keinerlei Konsequenzen geben. Damit hoffen sie, den Täter doch noch dazu zu bringen, dass er das Manuskript freiwillig zurückgibt.« Jenny wollte gerade wieder die Stopptaste drücken, als sie nach einer kurzen Atempause noch hinzufügte. »Wobei ich immer noch nicht ausschließe, dass Botsch selbst der Schuldige ist.« Zufrieden über diesen Nachsatz schaltete sie das Diktiergerät ab. Mehr hatte sie ihm nicht mehr anzuvertrauen, auch wenn sie sich ihr Gehirn noch so zermarterte. Sie tappten nach wie vor im Dunkeln und konnten nur hoffen, dass der Täter Arthurs oder Botschs Angebot annahm.
Der Professor hatte sich gleich nach dem Abendessen in die Bibliothek zurückgezogen und wartete nun darauf, dass die Handschrift freiwillig zurückgegeben wurde. Blasius Botsch wollte auf der Burg in ähnlicher Weise verfahren, auch er hatte den in Frage kommenden Personen – neben Francesca Rossi und Speranza wusste auch der Koch von dem Geheimgang – ein Ultimatum gestellt.
Arthur hatte es ihnen heute Nachmittag in der Bibliothek verkündet, nachdem Xenia, die sich zurückgezogen hatte, um an einem Aufsatz zu arbeiten, von Lenz herbeigeholt worden war. Jenny hatte erwartet, dass Arthurs Ankündigung zu Protest führen und jeder sich beeilen würde, den Verdacht nicht nur von sich, sondern von der gesamten Delegation zu weisen. Aber – offenbar durch die Ereignisse zermürbt oder zumindest gelangweilt – hatten alle mit relativ gleichmütigen Mienen dem Professor zugehört und sich dann rasch wieder zerstreut.
Selbst die Tatsache, dass Jenny, die angeblich ja verletzt war, im Radleroutfit dagesessen hatte, war unkommentiert geblieben, wenn sie von Mordreds süffisant hochgezogener Augenbraue absah. Und einmal war es Jenny so vorgekommen, als hätte Tina sie von der Seite her schuldbewusst angesehen. Aber das konnte auch Einbildung gewesen sein.
Das Abendessen war recht schweigsam verlaufen, obwohl Maria sich auch diesmal wieder alle Mühe gegeben hatte und mit Spaghetti vongole, Branzino und Tiramisu bewies, dass sie nicht nur von alpenländischer, sondern auch von mediterraner Küche viel verstand. Immerhin, außer Xenia, die über Kopfschmerzen klagte, und Arthur, der sich seit seiner Ankündigung in der Bibliothek wieder gar nicht wohl zu fühlen schien, langten alle ordentlich zu.
Auch Jenny hatte es sich schmecken lassen. Nach den Anstrengungen des Tages konnte sie eine ordentliche Portion durchaus vertragen. Auch wenn die köstlichen Speisen dazu beitrugen, ihre Nerven etwas zu besänftigen – die gute Laune konnten sie ihr nicht zurückbringen. Schon wieder war sie am Nachmittag wegen Lenz aufgebraust. Dabei hatte er sich doch nur einen Spaß erlaubt. Aber in dem Moment, als er meinte, sie sei die Hauptverdächtige, waren sämtliche Pferde mit ihr durchgegangen.
Sie hätte wirklich allen Grund gehabt, ihm gegenüber ein wenig nachsichtiger zu sein. Hatte er ihr doch nach ihrer Rückkehr, als er ihren Reifen reparierte, die ganze traurige Bewandtnis, die es mit dem Grab in dem Bergfriedhof bei Lengmoos auf sich hatte, erzählt: Er hatte Christa, die Tochter eines Hoteliers am Ritten, in seinem
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