Bußestunde
Jungen in der Sauna hatte er umso besser gesehen. All diese frisch ausgeschlagenen, überaktiven Penisse, die gleichsam darum bettelten, angefasst zu werden. Brüste hatten ihn seit seiner Säuglingszeit nicht mehr interessiert. Als er gezwungen war, in der Sauna seinen ersten Ständer zu verbergen, hatte er mit eisiger Klarheit eingesehen, dass er zu hundert Prozent homosexuell war. Danach war das folgende Jahrzehnt damit vergangen, das zu verbergen.
Er lächelte Eva Jakobsson an und sagte in vertraulichem Ton: »Es ist besser, wenn Sie es mit Ihren eigenen Worten erzählen.«
»Ich glaube, sie waren diejenigen in der Klasse, die das Wort führten. Ich glaube, dass es eine Art Clique gab, die bestimmte. Aber ich weiß es nicht, Jon. Ich kann nicht behaupten, dass sie mich an sich heranließ. Und so ging es dann weiter. Und so sollte es wohl auch sein.«
»Die bestimmte?«
»Na ja, was sagt man … die den Ton angab. Die Clique bestimmte, was angesagt war. Lisa gehörte zu den coolen Mädchen, nehme ich an. Zu denen alle aufsahen, denen, ich weiß nicht, denen die anderen gehorchten.«
»Kann man sagen, dass sie die Trendsetter unter den Mädchen waren?«
»Das nehme ich an«, sagte Eva Jakobsson. »Aber von den anderen Mädchen weiß ich nichts. Damals war ich schon aus ihrem Leben verschwunden.« Sie verstummte.
Jon Anderson verstummte mit ihr.
Am Ende sagte sie nur noch: »Meine kleine Lisa.«
*
Jorge Chavez saß einer Frau gegenüber, von der er überzeugt war, dass sie seine alte Französischlehrerin war. Zwar mit einem anderen Namen, zwar in Upplands-Väsby im Norden statt in Rågsved im Süden – dennoch musste er sein ganzes Arsenal rationaler Analyse aufbieten, um sich selbst davon zu überzeugen, dass dies nicht die Frau sein konnte, die dafür gesorgt hatte, dass er vom Gymnasium in Rågsved geflogen war, weil er achtzehn Heftzwecken auf ihren Stuhl gelegt hatte.
Es wurde damals behauptet, dass der Regentanz, den sie hinterher aufführte, den legendären Wolkenbruch über Rågsved zur Folge hatte, der dazu führte, dass die U-Bahn überflutet wurde.
Nein, Jorge, sagte er zu sich selbst, das ist sie nicht.
Sie erkennt dich nicht.
Dies hier ist eine andere, ganz ähnliche Person.
Er setzte sich auf dem Balkonstuhl im vierten Stock in der Hasselgatan mit Aussicht über den Väsbyskog zurecht und sagte so erwachsen, wie es ihm möglich war: »Frau Grundin, erinnern Sie sich an Lisa Jakobsson aus der S3D im Frühjahr 1995 im Vilunda-Gymnasium?«
Ann-Britt Grundin zog ihre schon vorher gefurchte Stirn in tiefe Falten und sagte: »Wie kommen Sie darauf, Herr Polizist, dass ich eine Schülerin vergessen könnte?«
»Kriminalinspektor«, korrigierte Chavez, ohne im Geringsten zu wissen, warum er das sagte.
»Eine Ahnung sagt mir, dass der Herr Kriminalinspektor nicht gerade der vorbildlichste Schüler war.«
»Aber wie kommen Sie darauf?«, platzte Chavez heraus, ohne im Geringsten zu wissen, warum er damit herausplatzte.
»Ich kenne meine Pappenheimer«, sagte Ann-Britt Grundin ruhig. »Heftzwecken wahrscheinlich.«
Jorge Chavez brach der Schweiß aus. Er spürte förmlich, wie er austrat. Er gab sich größte Mühe, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und fragte beherrscht: »Also, Lisa Jakobsson?«
»Ziemlich sprachbegabt«, sagte Ann-Britt Grundin. »Aber natürlich hat sie ihre Begabung verkommen lassen, wie so viele Mädchen. Jungen pflegen ihren Mangel an Begabung, bis die Pflege sie adelt. Mädchen werfen ihre Begabung auf den Müll und pflegen ihre mediokre Zukunft.«
»Also sind alle Jungen unbegabt?«, fragte Chavez, und jetzt nahm seine mangelnde Kontrolle über das, was er sagte, wirklich beängstigende Formen an.
»Nein, nicht wirklich«, erwiderte Ann-Britt Grundin. »Aber die richtig begabten Jungen verhalten sich ungefähr so wie Mädchen. Deshalb wird die Welt von mediokren Männern mit einem vollkommen schiefen Selbstbild regiert.«
Keine ganz abwegige Analyse, dachte Chavez, beruhigte sein erregtes Gemüt und probierte es erneut: »Vielleicht sollten wir versuchen, wieder zu Lisa Jakobsson zurückzufinden.«
»Ja, natürlich. Es fing ziemlich gut an im ersten Jahr. Sie war vielleicht keine großartige Schülerin, aber sie hatte ein gut entwickeltes Ohr für Sprachen. Das Problem war, dass sie in den Kreis um Hanna hineingezogen wurde. Da wurde alles schwieriger. Die arme Lisa war wohl nicht gerade ein Wunder an Integrität.«
»Ist man das mit sechzehn Jahren?«,
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