Bußestunde
wurde Jon Anderson klar, dass niemand Lisa Jakobssons Mutter mitgeteilt hatte, was mit ihrer Tochter geschehen war. Er dachte an das, was Jorge über Kerstin Holm gesagt hatte, und beschloss, dass es ihr Fehler war. Sie hätte Eva Jakobsson informieren müssen. Jetzt war stattdessen er gezwungen, es zu tun.
Aber er wählte den feigen Ausweg.
»Sie ist seit einigen Tagen nicht in ihrer Wohnung gewesen«, sagte er. »Wir versuchen, sie zu finden. Haben Sie eine Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte?«
»Wir hören nicht mehr so viel voneinander in letzter Zeit«, sagte Eva Jakobsson, und erst jetzt nahm Jon Anderson den deutlichen schonischen Akzent wahr. Skurup. Zwischen Malmö und Ystad.
»Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?«
»Ich habe sie vor ein paar Wochen angerufen. Wir haben eine Weile miteinander geredet, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt zugehört hat. Ich kann es merken, wenn sie einfach abschaltet.«
»Was hat sie gesagt?«
»Nicht viel. Ich glaube, ich habe eine Bemerkung darüber fallen lassen, wie froh ich sei, dass sie mit diesem Hans Georg, oder wie er hieß, Schluss gemacht habe. Das war ein echter Langweiler. Sie war nicht besonders sauer deswegen. Was meinen Sie damit, dass sie verschwunden ist?«
»Wir wissen nicht, wo sie ist«, sagte Jon Anderson feige.
»Ich frage mich, ob die Polizei wirklich so schnell reagiert, wenn eine erwachsene Frau verschwindet«, insistierte Eva Jakobsson. »Sie sagen mir nicht alles, Jon.«
Und wieder blickte er in das Gesicht seiner Mutter. »Was wissen Sie über ihre Essgewohnheiten?«, konnte er gerade so herausbringen.
»Sie meinen die Anorexie? Ja, mein Lieber. Die hat eine lange, lange Geschichte. Ich habe mir deswegen das Gehirn zermartert. Ist es mein Fehler? Fing es damit an, dass Åke und ich uns scheiden ließen und ich Lisa mit nach Stockholm nahm?«
»Damals war sie in der Mittelstufe, nicht wahr?«
»In der Achten, glaube ich. Sie kam direkt in eine fremde Klasse. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie sich schnell anpasste. Es dauerte nicht viel mehr als einen Monat, da hatte sie aufgehört, Schonisch zu sprechen. Sie ist ziemlich sprachbegabt, das wissen Sie vielleicht, Jon. Sie spricht vier Sprachen fließend. Deshalb ist sie Chefin in einem Reisebüro.«
»Fingen die Essstörungen damals schon an?«
»Nein, es begann in der Oberstufe. Sie war vollkommen unmöglich, man konnte überhaupt nicht mehr mit ihr reden. Aber auch verflixt hübsch, das muss ich sagen. Sie hatte ein paar Freundinnen, und sie waren eine unzertrennliche Clique. Alle ziemlich gefährlich für die älteren Jungs.«
»Und da fingen die Essstörungen an?«
»Ja, gegen Ende des ersten Oberstufenjahrs. Aber jetzt müssen Sie mir erzählen, was eigentlich los ist. Sie ist meine einzige Tochter. Mein einziges Kind. Auch wenn mir klar ist, dass ich sie schon lange verloren habe.«
»Verloren?«
»Stellen Sie sich vor, Jon, Sie haben eine junge und frische und hübsche Tochter. Sie hat gerade die schlimmsten Pubertätskrisen hinter sich gebracht und ist als Schönheit daraus hervorgegangen. Keine außergewöhnliche Schönheit, aber sie ist schön, attraktiv, sie wirkt anziehend auf Männer. Sie sehen sie an und denken: Sie hat es geschafft. Ich habe sie nicht umgebracht mit meiner Scheidung. Sie war stark genug, das zu verkraften. Und dann kommt das. Sie ist plötzlich von einem Teufel besessen, der nicht von ihr ablässt. Der nie von ihr ablassen wird. Sie sehen es und wissen, dass Sie nichts daran ändern können. Sie versuchen es trotzdem. Sie tun alles, was in Ihrer Macht steht, und mehr als das. Sie sehen, dass sie sich in einer Clique befindet, die viel stärker ist als die Mutter. Deren Schönheitsideal ist jetzt angesagt. Die anderen bestimmen.«
»Sie sprechen jetzt von ihren Freundinnen?«
»Vier Mädchen«, sagte Eva Jakobsson und schnitt eine Grimasse.
»Und diese … Mädchen … was taten sie?«
»Sie wissen doch, was Mädchen im Gymnasium tun? Sie waren doch auch einmal da, Jon. Sie wissen es doch.«
Erst in diesem Moment verfluchte Jon Jorge. Vorher hatte er ohne größere Probleme Jorges – wenngleich nicht formelle – Führungsrolle akzeptiert. Als Jon »Lehrerin« sagte, hatte Jorge ihm »die Mutter« anbefohlen, und damit hatte er, Jon, kein größeres Problem gehabt. Aber jetzt war es ein Problem. Er befand sich in einer weiblichen Welt, zu der er keinen Bezug hatte. Er hatte auf dem Gymnasium keine Mädchen gesehen. Die
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