Bußestunde
du sie noch alle? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht unter einem so guten Chef gearbeitet.«
»Aber momentan«, sagte Jorge und betrachtete unruhig den Lynchmob in den wüst hupenden Autos. »Genau jetzt. Was tut sie eigentlich? Hat sie auch nur einen Finger gerührt, um diese verschiedenen Fälle in den Griff zu bekommen? Alles baut darauf auf, dass wir Profis mit eigener, gut entwickelter Kreativität sind.«
»Aber das war doch schon immer so«, sagte Jon. »Was war denn nun bei stopIT AB?«
»Es ist ein IT-Unternehmen auf dem absteigenden Ast. Hans Jörgen Bratt schien ziemlich resigniert für einen IT-Chef. Sie steuern vermutlich auf den Konkurs zu. Seine Beziehung mit Lisa Jakobsson war auseinandergegangen, weil ihre ganze Aufmerksamkeit und ihr ganzes Begehren auf den eigenen Körper gerichtet waren. Auf das Verschwinden des eigenen Körpers. ›Sie hätte so viel hungern können, wie sie wollte, sie hatte trotzdem keine Chance, richtig petite zu werden. Dazu hatte sie nicht das Skelett.‹«
»Ich hoffe, dass ein Teil davon ein Zitat war.«
»Das hoffe ich auch.«
»Ein Mann mit Empathie.«
»Ein modernes Großstadtpaar von heute, fürchte ich«, sagte Chavez. »Und wie war die Lage im Krankenhaus Danderyd?«
»Eine moderne und vitale private Einrichtung für Essstörungen jeglicher Art«, sagte Anderson. »Stark Übergewichtige und ebenso stark Unterernährte wandelten wie ihre eigenen Gespenster in den Gängen. Die Einzigen mit Normalgewicht gehörten zum Personal.«
»Und du hast also mit … Adriana Rubert gesprochen?«
»Der Leiterin, ja. Sehr interessantes Gespräch. Ich habe enorm viel über Anorexie und Bulimie gelernt. Es sind übrigens nicht nur Frauen betroffen. Jetzt begreife ich, warum viele meiner Kumpel so dünn sind.«
»Schwule sind entweder dick oder dünn«, sagte Chavez. »Entweder Lasse Flinckman oder Christer Lindarw. Dazwischen gibt es nichts.«
»Und Chilenen sind vorurteilsfrei.«
»Genau.«
»Aber es gibt doch einen verblüffend hohen Anteil Frauen mit Anorexie, und an sich sind verblüffend viele Menschen betroffen. Ich bin groß und schlank, und ich esse wie ein Pferd. Ich begreife das alles nicht. Es geht über meinen Verstand.«
»Ehrlich gesagt, ist es wohl nicht deine stärkste Seite, Frauen zu verstehen«, sagte Chavez.
»Zugegeben«, sagte Anderson. »Aber auf Menschen verstehe ich mich ziemlich gut, glaube ich. Also unabhängig vom Geschlecht. Aber bei dieser Krankheit setzt es bei mir aus. Warum sind fast nur intelligente, kreative, tatkräftige Frauen betroffen?«
»Hast du darauf keine Antwort bekommen?«
»Nur indirekt. Wer viel denkt, reflektiert auch viel über sich selbst. So weit kann ich folgen. Ich kann auch ein Stück weit nachvollziehen, dass man mit dem eigenen Aussehen unzufrieden ist. Ich hätte auch gern etwas mehr Muskeln und wäre gern zehn Zentimeter kleiner. Aber deshalb säge ich mir doch nicht die Beine ab.«
»Die Mädchen der Arbeiterklasse futtern sich rund, und die Mädchen aus dem Bürgertum hungern und werden anorektisch?«
»Das gilt natürlich nicht für alle«, sagte Jon Anderson. »Die allermeisten haben ein ziemlich gesundes Verhältnis zu ihrem Körper. Adriana Rubert zufolge.«
Sie waren schon in Sollentuna und rollten an Häggvik vorbei. Chavez kannte sich nicht mehr aus. Der ganze große Vorort schien mittels schönheitschirurgischer Eingriffe sein Aussehen zu verändern. Vielleicht war auch ein bisschen Bulimie mit im Spiel.
»Und konkreter?«, fragte Chavez. »Ich nehme an, du hast ihnen erzählt, dass du dich in ihr Patientenregister eingehackt hast?«
Jon Anderson räusperte sich und sah ehrlich schuldbewusst aus. »Wir könnten es vielleicht einen Sicherheitstest nennen … Ich habe ihnen allerdings gesagt, dass sie ihr Patientenregister besser schützen müssten. Frau Rubert beeilte sich zu versichern, dass sie daran arbeiteten.«
»Hat sie sich an Lisa erinnert?«
»Doch, klar. Adriana Rubert bezeichnete Lisa Jakobsson als einen, ich zitiere, ›gravierenden Fall‹. Das will sagen, dass sich das anorektische Denken tief in ihr Bewusstsein eingegraben hatte, sodass ihm schwer beizukommen war. In ihrem Fall war eine Langzeittherapie erforderlich, zu der sie nicht die Geduld hatte. Beim letzten Mal, vor einem knappen halben Jahr, brach sie die Behandlung wütend ab und kam nie wieder.«
»Die Beziehung zu Hans Jörgen Bratt endete vor ungefähr einem halben Jahr«, erinnerte Chavez. »Er verließ sie
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