Bußestunde
war. Wahrscheinlich hat es mich mehr gestört, als ich erkennen ließ. So ist es meistens.
Es gab nie mehr als zwei Polizeibeamte, die als Nachfolger für mich infrage kamen, und plötzlich waren sie da, alle beide. Plötzlich sahen sie mein Gesicht, die beiden, wie Eindringlinge. Es war der andere, die Nummer zwei auf der Liste, die nur zwei Namen enthielt, der jetzt die Geschichte von seiner Tochter erzählte. Und diese Geschichte traf mich ins Mark. Wahrscheinlich hatte ich in dem Augenblick gerade mein Visier gesenkt. Der Tochter war eine Giftampulle in den Arm operiert worden. Von ihm. Dem Teufel in Person. Und sie konnte jeden Augenblick per Fernsteuerung aktiviert werden.
Dies war der Moment, als mich die fremden Wellen durchströmten. Es dauerte eine ganze Zeit, bis mir klar wurde, dass es Hass war.
Zum Glück saß unser Technikexperte mit auf dem Sofa. Er war schon zuvor auf diese infame Waffe gestoßen. Er holte die Giftampulle heraus. Die Tochter wurde hergebracht, und er operierte an Ort und Stelle.
Wir hoben die Giftampulle auf, um zu sehen, ob sie irgendwann ausgelöst wurde. Das geschah auch, etwa einen Tag später. Hätte sie da noch im Arm des kleinen Mädchens gesteckt, wäre es eines qualvollen Todes gestorben.
Wieder fällt es mir schwer zu verstehen, warum gerade dies mir so zusetzte. Ist man trotz allem immun für das, was nicht zu Hause passiert? Lag es daran, dass das kleine Mädchen eine blonde Schwedin war? Hätte ein kleines schwarzes Flüchtlingskind in Darfur die gleiche Wirkung auf mich gehabt?
Die Antwort darauf werde ich nie bekommen. Doch sie fingen seine Rauschgiftsendung ab. Das tat gut. Er verließ das Land, und ich hätte nie geglaubt, dass ich ihn wiedersehen würde.
Aber ich tat es. Vor allem sah ich die Auswirkungen seiner Machenschaften. In Bagdad.
Alle Wege führen nach Bagdad.
»Auch wenn der Esel nach Bagdad geht, wird er kein Pferd«, lautet ein altes arabisches Sprichwort. Man kann es so deuten: »Auch wenn der Verbrecher nach Bagdad geht und sich mit der Besatzungsmacht verbündet, wird er nicht ehrenhaft.«
Und das konnte man sehen. Man sah es jeden Tag.
Seine Machenschaften sind vielfältig. Seine Fühler erstrecken sich in alle Richtungen. Er stellt die Mikrowaffen her, die elektronischen und die chemischen Kampfmittel. Er versieht die Selbstmordattentäter sowohl mit effektivem Sprengstoff als auch mit »kill pills«, Methamphetamin in neuen, spannenden Zusammensetzungen. Und alles geschieht in gutem Einvernehmen mit der amerikanischen Armee.
Er ist wichtig für sie.
Jedes Mal, wenn ich in Bagdad bin und auf jede mir zu Gebote stehende Art und Weise versuche, die irakische Sicherheitspolizei auf Vordermann zu bringen, stoße ich auf sein Werk.
Das Werk des Teufels.
Er muss weg. So einfach ist es.
Ich höre jetzt auf zu schreiben. Es reicht.
Wo die Worte versagen, müssen Taten folgen.
Die Würfel sind gefallen.
20
»Et resurrexit tertia die secundum scripturas, et ascendit in coelum, sedet ad dexteram Dei Patris, et iterum venturus est cum gloria judicare vivos et mortuos«, klang Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe .
»Und am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten.«
Ja, dachte Paul Hjelm und legte das Heft beiseite. Das ist wahrlich vonnöten.
Dann dachte er: Per Naberius.
Er dachte an einen gesprengten U-Bahn-Wagen in Stockholm.
Er dachte an Arto Söderstedts jüngste Tochter Lina.
Und er dachte an Tore Michaelis.
Und er verstand ihn.
Natürlich verstand er ihn. Natürlich kannte er den Augenblick, den simplen Zeitpunkt, an dem alles einfach zu viel wird.
Den Augenblick, in dem der Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt.
Er saß eine Weile da und ließ Bach auf sich wirken. Die Musik als der Triumph des Lebens über den Tod.
Drei Tage, dachte er. Die Aufzeichnungen von drei Tagen waren alles, was Tore Michaelis hinterlassen hatte. Dann stand er auf von den Toten. Und jetzt saß er mit aller Sicherheit zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, und richtete über die Lebendigen und die Toten.
Er blätterte den Rest des Hefts durch. Die Seiten waren leer. Ganz und gar leer. Es gab nichts mehr.
Dies waren Tore Michaelis’ starke Seiten. Drei Abschnitte, mehr nicht. Danach Schweigen.
Aber wo waren die schwachen Seiten?
»Bruder Michael kannte auch meine schwachen Seiten.«
Paul Hjelm
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