Bußestunde
Lieblingsautoren zu picken. Ich las Benedetti, Cochinescu, Drigo, Reginève, Bordewijk, Sezaock, Dimitrova, Herfanda, Eschine, Gunesekera. Sie sprachen ein und dieselbe deutliche Sprache. Nicht zuletzt der dritte Satz bei Bordewijk, der mich mit solcher Trauer erfüllte. Sonderbar, dass ich sie so lange nicht gelesen hatte, einige von ihnen.
Es war in Stockholm, vor knapp einem Jahr, und ich war so unvorbereitet. Ein Polizist auch noch. Keine elternlosen, verstümmelten Kinder in Ruanda, keine Konzentrationslagergefangenen in Bosnien, keine Babyleichen im Sudan, die die Mutter wochenlang nicht loslassen will. Ich habe das alles erlebt, aber nichts davon weckte meinen Hass. Es war das eigenartige Schicksal eines einfachen Polizeibeamten.
Ich höre jetzt auf damit. Dies sind die Aufzeichnungen des letzten Tages. Ich hatte gedacht, es würde länger dauern – allein die Dicke dieses Hefts spricht dafür – , aber wie so oft in meinem Leben tritt das Handeln in den Vordergrund. Viele reden, wenige handeln. Das war einmal mein Wahlspruch. Spüre ich heute einen Hauch von Ironie angesichts dieses Wahlspruchs? Oder ist es das Einzige, was ich tun kann? Ist das alles, wozu ich in der Lage bin?
Blindes Handeln?
Dennoch will ich es sagen. Gerade dies. Wann mein Hass geboren wurde. Ich will es tun, auch wenn nur Michael es lesen wird, und ehrlich gesagt bin ich nicht einmal sicher, ob er lesen kann. Wenn du es trotzdem liest, Michael, verzeih mir. Ich weiß, dass dein Herz verzeihen kann.
Die Selbstbeherrschung dieses Polizisten. Ich weiß nicht, ob ich sie je verstehen werde. Er hatte sich auch zum Handeln entschlossen. Es gelang ihm nicht. Aber er tat alles, was in seiner Macht stand.
Ich bin nicht der Mann, der seine Vorgesetzten preist, in der Regel verteidige ich sie nicht einmal. Sie richten ihr Augenmerk so häufig auf die falschen Dinge. Leute, die Chefs werden, sind oft solche, die Chef werden wollen, nicht die, die gut dafür geeignet sind. So habe ich ihn immer gesehen, meinen Chef.
Ich habe so viele kommen und gehen sehen. Sie waren mehr oder weniger kompetent. Diesen hier hielt ich für mittelmäßig, allen Ticks zum Trotz. Er war keiner der Besseren, aber auch keiner der Schlechtesten. Manche spotteten jeder Beschreibung. Aber gerade in dieser Zeit wuchs er drastisch in meiner Achtung. Genau in diesem Fall hat er sich erstaunlich brillant verhalten.
Eigentlich war es Meuterei. Es war Insubordination, Befehlsverweigerung, schiere ungesetzliche Eigenmächtigkeit. Wenn der Chef mit dem Rückenmark reagiert hätte, säßen jetzt alle im Gefängnis. Ich sah, dass Sune nahe daran war, es zu tun. Aber der Chef war die Ruhe selbst. Cool under fire. Das ist immer ein wenig suspekt.
Und natürlich meine persönliche Spezialität …
Wir saßen zu viert auf dem Sofa, der Chef und Sune in den Sesseln. Die Situation war uns gerade klar geworden. Wir diskutierten, was in der gegebenen Lage zu tun war. Die richtigen internationalen Kontakte waren vorhanden. Da tauchten sie auf.
Der dritte Satz. Er ist ganz und gar wahr.
Sie kamen herein, ein ganzes kleines Aufgebot. Sie wurden angeführt von ihrem früheren Chef, dem formellen Leiter der Ermittlungen, und sie waren unzufrieden mit der Art und Weise, wie wir unseren Teil der Ermittlungen führten.
Das war eine schwierige Lage. Es war notwendig, große Teile geheim zu halten.
Ich mache hier halt. Ich erkenne jetzt, dass ich versuche, eine Reihe zweifelhafter Handlungen zu rechtfertigen. Das ist sozusagen Teil unserer Arbeitsplatzbeschreibung.
Verflucht.
Wir sahen auf jeden Fall ziemlich früh, manche von uns vom ersten Augenblick an, wessen Werk es war. Er hatte nicht einmal davor zurückgeschreckt. Nicht einmal davor, aus den Bomben in der Londoner U-Bahn Vorteile für seine eigenen dubiosen Zwecke zu ziehen.
Allein das reichte eigentlich aus. Er beseitigte den Mann, den wir eingeschleust hatten – und ermordete zugleich weitere zehn Menschen. Und wir konnten ihn nicht dafür zur Rechenschaft ziehen, das war unmöglich, und er wusste es. Ich konnte sein Lachen hören.
So etwas stört mich normalerweise nicht. Es begegnet mir eigentlich die ganze Zeit, dieses aufgeblähte Selbstvertrauen, diese unendliche Selbstgefälligkeit der Machthaber. Aber dann passierte dies: Sie stürmten herein. Sie hätten gar nicht da sein dürfen. Mein ausersehener Nachfolger war auch dabei, und ich wechselte hinterher ein paar Worte mit ihm. Es störte mich etwas, dass er dabei
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