Butenschön
kurz vor Kriegsende, da wurde es immer schwieriger, an solches Material zu kommen.« Sie hob die Schultern. »Juristisch ist da nichts zu machen. Nur moralisch.«
Es läutete. Mit einer knappen Kopfbewegung, die meinen Blutdruck in die Höhe trieb, dirigierte mich Christine zum Telefon. »Ja?«, plärrte ich dem Anrufer entgegen. Missbilligung im Blick, stand meine Ex auf und ging in die Küche.
»Nein«, rief ich, »damit habe ich nichts zu tun. Überhaupt nichts. Wie kommen Sie denn darauf?« Ich sah zu Evelyn Deininger hinüber und schnitt eine Grimasse. »Diese Nuttenstorys sind unter meinem Niveau. Unter dem Ihres Käseblatts vielleicht nicht, aber das ist Ihr Problem!« Zack, das Telefon landete in einer Ecke, und ich wünschte mir die Zeiten zurück, wo man den Hörer noch mit Schmackes auf die Gabel knallen konnte.
»Nuttenstorys?«, fragte Knödelchen.
»Romana, die wildeste Hure von Heidelberg. Schon mal gehört? Das war schon der Dritte oder Vierte, der glaubt, ich ermittle in der Sache. Seit mein Name auf einem Buchdeckel steht, trauen mir die Leute alles zu.«
Sie rang sich ein kleines Lächeln ab. Wir warteten, bis Christine mit drei Tassen und einer Kanne Tee zurückkam, dann kehrte die Historikerin zum Thema zurück.
»Es gibt weitere Forschungsprojekte der Nazis mit Berührungen zu Butenschön. Aber auch da ist fraglich, inwieweit er involviert war und was er über die Hintergründe wusste. Einer seiner Mitarbeiter ging irgendwann nach Tirol, um dort Kälteexperimente an Menschen durchzuführen. Offenbar standen ihm dafür Freiwillige zur Verfügung, und es kam auch nicht zu Todesfällen, soweit man weiß. Dann war Butenschön der Initiator einer Versuchsreihe in Unterdruckkammern. Keine Menschen-, sondern Tierversuche. Insofern alles in Ordnung. Aus diesem Projekt aber ging ein neues hervor, geleitet von einem Schüler Butenschöns und wohl ohne dessen Wissen. Hier hat man nun Menschen in Unterdruckkammern gesteckt, und zwar Kinder. Sechs Kinder aus einer psychiatrischen Anstalt.«
»Gott, ist das eklig!«, entfuhr es Christine.
»Die sechs sollen das Experiment unbeschadet überstanden haben, heißt es. Ein Verbrechen ist es natürlich trotzdem. Aber es geschah erneut ohne Beteiligung Butenschöns, soweit ersichtlich.« Sie beugte sich vor, um sich eine Tasse Tee einzuschenken.
»Okay«, sagte ich. »Die Sache ist kompliziert. Aber nun wird mir klar, welcher Zündstoff in den verschwundenen Akten steckt. Ein einziger Brief, zum Beispiel an einen dieser Schüler oder Mitarbeiter, könnte die Beurteilung Butenschöns völlig verändern.«
»Sagen wir mal: Er könnte die Gewichtung verschieben. Das wäre auch schon etwas, zumindest in wissenschaftlicher Hinsicht.«
»Die Gewichtung? Das klingt mir zu defensiv.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es werden keine Dokumente auftauchen, in denen steht, Albert Butenschön sei persönlich in einem Vernichtungslager tätig gewesen. Das ist ausgeschlossen. Auch dass er in Berlin mit Material aus Auschwitz hantiert hätte, wird mit ziemlicher Sicherheit nicht Inhalt der Akten sein. Wir sind ja auch ohne sie über seine Tätigkeit in den Kriegsjahren recht gut informiert. Wenn sich etwas Neues ergibt, dann zu der Frage: Was wusste er über die Hintergründe von Verschuers Arbeit? Hat er sie gebilligt, hat er seinen Einfluss geltend gemacht, als der Projektantrag gestellt wurde? Die Akten werden aus Butenschön keinen Verbrecher machen, sie werden höchstens die Vorwürfe, die man ihm aus ethischen Gründen machen kann, auf eine stabilere Basis stellen.«
»So?«, grummelte ich. Irgendetwas in mir wäre dem Alten gerne auf die Schliche gekommen. Auch wenn das albern war. Wissenschaftler in Butenschöns Position hatten ja zwangsläufig in Kontakt mit den Nazis gestanden, jeden Tag, Jahr für Jahr, und dass die Grenzen zwischen Kontakt und Kollaboration fließend waren, wusste ich selbst. Unzufrieden goss ich mir auch eine Tasse Tee ein und verbrannte mir prompt die Zunge an dem heißen Zeug.
»Hat sich Butenschön nach dem Krieg zu seiner Verantwortung als Wissenschaftler geäußert?«, fragte Christine.
»Kaum. Im Verlauf seiner Entnazifizierung gab er an, von Auschwitz und der Judenvernichtung nichts gewusst zu haben. Genau wie Verschuer und wie Millionen andere Deutsche auch. An konkreten Verbrechen war ihm ja nichts vorzuwerfen, deshalb kam die Entlastung durch die Spruchkammer nicht überraschend. Im Übrigen sah er sich wohl als Opfer: als Opfer
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