Butenschön
sondern hübsch recycelt und für die Kollegen in Formalin gelegt. Der eine Forscher bekam die Milz, der nächste das Gehirn, dem dritten reichten ein paar Blutproben. Alles lebendfrisch, selbstverständlich. Da kann man sich die Freude ausmalen in Berlin, wenn wieder Post aus Polen kam! Gespannt wie an Weihnachten steht das ganze Institut um den Chef herum, der die Paketschnur aufziehen darf, und schon lachen einen zwölf sauber präparierte Augen aus dem Karton an!
»Bitte nicht!« Christine wandte sich ab, als auf dem Bildschirm tatsächlich eine Kiste voller menschlicher Augen gezeigt wurde.
»Tut mir leid«, meinte Evelyn Deininger und stoppte die DVD. »Zugegeben, der Beitrag ist ziemlich effekthascherisch. Aber an den Tatsachen gibt es nichts zu rütteln. In Dahlem hat man mit Augen aus Auschwitz gearbeitet. Und mit Organen von KZ-Häftlingen.«
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Ich lag in einem Sessel und betrachtete meine Fußspitzen. Christine saß auf dem Sofa, neben ihr die Deininger. In Reichweite stand Handschuhsheimer Kürbissuppe in Schälchen. Lecker war sie gewesen, aber jetzt wurde sie kalt. Draußen blökte eine Autohupe, ein zweite antwortete.
»Lebendfrisch«, sagte ich und kratzte mich am Kinn. »Was heißt das? Doch nicht Entnahme bei lebendigem Leib?«
»Nein, sondern direkt nach der Ermordung. Es gab Ärzte, die sich Häftlinge aufgrund bestimmter Merkmale aussuchten und sie durch Injektionen töten ließen. Ein regelrechter Organmarkt: Ich brauche die Leber von dem Kranken dort hinten, und jetzt bitte noch eine gut abgehangene Niere.«
»Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte«, murmelte Christine. Auch wenn ich die Kürbissuppe gekocht hatte, nahm ich es nicht persönlich.
»Mengele«, fuhr die Deininger fort, »ist in seiner Skrupellosigkeit sicher ein Extremfall, auch innerhalb des Dritten Reichs. Aber es gab jede Menge Ärzte und Forscher, die ihre moralischen Bedenken um der eigenen Karriere willen über Bord warfen. Oder einfach, um zu neuen, spektakulären Ergebnissen zu kommen. Die berühmt-berüchtigte entgrenzte Wissenschaft, wie es im Fachjargon heißt.«
»Gehört Butenschön auch dazu?«, wollte ich wissen.
»Nicht im engeren Sinne. Sollte er Bedenken gehabt haben, dann hat er sie beiseite geschoben. Wo er hätte nachfragen können – oder sollen –, hat er es niemals getan. Aber von einer direkten Schuld kann man kaum sprechen. Mit Präparaten aus Auschwitz arbeitete er jedenfalls nicht.«
»Sondern? Ich meine, warum zeigen Sie uns dann diesen Film?«
»Mengeles Frankfurter Doktorvater hieß Verschuer, Freiherr Otmar von Verschuer. Und der leitete während des Kriegs das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Berlin-Dahlem.«
»Dort war Butenschön doch auch?«
»Richtig, als Direktor des Instituts für Biochemie. Verschuer und Butenschön waren mehr als Kollegen. Sie waren Freunde, Nachbarn, und einen ähnlichen politischen Horizont hatten sie auch. Der eine war Mitglied der Thule-Gesellschaft gewesen, der andere im Jungdeutschen Orden. Man wusste jeweils von den Forschungen des anderen, tauschte sich natürlich über Gott und die Welt aus. Und dieser Verschuer arbeitete mit Blutproben aus Auschwitz.«
»Das passt zu einem, der den Mengele hochgebracht hat.«
»Mag sein. Verschuer behauptete nach dem Krieg, er habe nicht gewusst, dass die Probanden zur Abgabe gezwungen worden waren, und schon gar nicht, dass man sie danach umgebracht hatte. Mengele habe stets von den humanen Bedingungen in dem Straflager geschwärmt.«
»Und damit kam er durch?«
»Das Gegenteil war ihm nicht nachzuweisen. Verschuers Aussage nach war sogar sein Schüler Mengele ein Opfer, den man gegen seinen Willen nach Auschwitz abkommandiert habe.«
»Wie bitte?«
»Vielleicht wollte er dadurch von seiner eigenen Rolle ablenken. Es ist nämlich denkbar, dass es Verschuer höchstpersönlich war, der für die Installation seines Schülers als Lagerarzt gesorgt hat. Belegen lässt sich das jedoch nicht. Verschuer jedenfalls bekam nach dem Krieg einen Persilschein ausgestellt. Sein Freund und Kollege Butenschön versicherte in einer Art Gutachten, dass Verschuer ein charakterlich einwandfreier Mensch sei, der ganz sicher nicht mit den Blutproben experimentiert hätte, wenn ihm die Einzelheiten ihrer Herkunft bekannt gewesen wären.«
Jetzt war ich es, den akuter Brechreiz befiel. War das Butenschöns Vorstellung von Elite? Dass man die Reihen geschlossen
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