Byrne & Balzano 02 - Mefisto
Overall vor ein paar Jahren für einen Undercover-Einsatz von ihm bekommen. Niemand achtete auf einen Arbeiter, der auf der Straße zu tun hatte. Sie gehörten ebenso wie Straßenverkäufer, Bettler und alte Leute zum normalen Stadtbild. Ein aus Menschen gefertigtes Bühnenbild. Heute Nacht musste Byrne unsichtbar sein.
Er schaute auf das kleine Schneewittchen aus Keramik auf seinem Schrank. Er hatte es vorsichtig von der Motorhaube genommen und in eine Plastiktüte gesteckt, als er sich hinters Steuer gesetzt hatte. Er wusste nicht, ob er es je als Beweismaterial brauchen würde oder ob Julian Matisse seine Fingerabdrücke darauf hinterlassen hatte.
Noch wusste er, auf welcher Seite von Recht und Gesetz er stehen würde, wenn diese lange Nacht vorüber war. Byrne schlüpfte in den Overall, nahm den Werkzeugkasten und verließ die Wohnung.
***
Sein Wagen war in Dunkelheit gehüllt.
Eine Gruppe Jugendlicher um die siebzehn oder achtzehn – vier Jungen und zwei Mädchen – lungerten ein Stück entfernt auf der Straße herum, beobachteten das Treiben und warteten auf ihre große Stunde. Sie rauchten, ließen einen Joint kreisen, tranken Schnaps aus braunen Papiertüten und klatschten sich ab, oder wie man es heutzutage auch nennen mochte. Die Jungen wetteiferten um die Gunst der Mädchen; die Mädchen machten ihnen schöne Augen, und sonst fehlte es ihnen an nichts. Eine ganz normale Szene an einem Sommerabend in der Stadt. So war es immer gewesen.
Warum tat Phil Kessler Jimmy das an?, fragte Byrne sich. Heute Nachmittag war er bei Darlene Purify vorbeigefahren. Jimmys Witwe hatte den Schmerz der Trauer noch nicht überwunden. Sie und Jimmy hatten sich zwar etwa ein Jahr vor Jimmys Tod scheiden lassen, aber dadurch waren die Gefühle nicht erloschen. Sie hatten ein halbes Leben zusammen verbracht und drei gemeinsame Kinder großgezogen.
Byrne versuchte sich zu erinnern, welch ein Gesicht Jimmy gemacht hatte, wenn er einen seiner verrückten Witze erzählte oder wenn er um vier Uhr morgens richtig ernst wurde, damals, als er noch ziemlich stark getrunken hatte, oder wenn er irgendein Arschloch verhörte, oder als er einem kleinen Chinesen, der die Schuhe verloren hatte, als ihn größere Kinder gejagt hatten, auf dem Spielplatz die Tränen trocknete. An jenem Tag ging Jimmy mit dem Kind zu Payless und kaufte ihm von seinem eigenen Geld ein neues Paar Schuhe.
Byrne konnte sich nicht an das Gesicht erinnern.
Wie konnte das sein?
Er erinnerte sich an jeden Punker, den er je verhaftet hatte. Jeden einzelnen.
Er erinnerte sich an den Tag, als sein Vater ihm bei dem Händler in der Neunten Straße ein Stück Wassermelone gekauft hatte. Er war damals etwa sieben Jahre alt, und es war ein heißer, schwüler Tag. Die Wassermelone war eiskalt. Sein alter Herr trug ein rot gestreiftes Hemd und weiße Shorts. Sein alter Herr erzählte dem Verkäufer einen Witz, einen versauten Witz, denn er flüsterte so leise, dass Kevin nichts verstehen konnte. Der Verkäufer lachte laut und dreckig. Er hatte goldene Zähne.
Byrne erinnerte sich an jede einzelne Falte unter den winzigen Füßen seiner Tochter an dem Tag, als sie geboren wurde.
Er erinnerte sich an Donnas Gesicht, als er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, wie sie den Kopf ein wenig zur Seite neigte, als würde es ihr Einblicke in seine wahren Absichten verleihen, wenn sie die Welt aus einer anderen Perspektive betrachtete.
Aber Kevin Byrne konnte sich nicht an Jimmy Purifys Gesicht erinnern, das Gesicht eines Mannes, den er geliebt hatte, der ihm fast alles beigebracht hatte, was er über die Stadt und den Job wusste.
Gott stehe ihm bei – er konnte sich nicht erinnern.
Der Gedanke, dass er sich niemals mehr erinnern könnte, erfüllte ihn mit einer wahnsinnigen Angst, einem Gefühl, das sich in ein lebendes, krabbelndes Ding in seinem Innern verwandelte, ein glühend heißes Wesen, das durch seine Gedärme kroch und nach dem besten Platz Ausschau hielt, um sich dort für immer einzunisten und ihn in einen Mann zu verwandeln, der keine Entschlüsse treffen konnte und in fortwährender Angst lebte. Ein Nichts. Ein Niemand. Eine Null. Ein Ehemaliger.
Er schaute die Straße rauf und runter und stellte alle drei Wagenspiegel ein. Die Jugendlichen waren weitergezogen. Es wurde Zeit für ihn. Er nahm den Werkzeugkasten und ein Klemmbrett mit und stieg aus. Aufgrund des großen Gewichtsverlustes hatte er das Gefühl, in dem Overall zu versinken. Er zog den Schirm
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