Byrne & Balzano 02 - Mefisto
sprach.
Byrne trug diesen Schmerz in seiner Tasche. Woher sollte er den Mut nehmen, ihn herauszuziehen?
Er trank einen Schluck Limonade. Einen Moment lang herrschte eine lastende, unangenehme Stille. Ein Auto fuhr vorbei. Aus der Stereoanlage ertönte ein alter Song der Kinks. Wieder trat Stille ein. Eine heiße, leere Sommerstille. Byrne brach das Schweigen mit den Worten, die er sagen musste. »Julian Matisse wurde aus dem Gefängnis entlassen.«
Melanie schaute ihn einen Augenblick ausdruckslos an. »Nein, ist er nicht.«
Es war eine nüchterne Feststellung. Für Melanie entsprach sie der Realität, indem sie diese Äußerung machte. Byrne hatte diese Worte in seinen über zwanzig Jahren bei der Polizei tausend Mal gehört. Es war nicht etwa so, als hätte die betreffende Person etwas missverstanden. Es war eine Ausflucht, als könnte allein die Behauptung die Wahrheit ins Gegenteil verkehren oder als wäre die Pille nach ein paar Sekunden leichter zu schlucken.
»Ich fürchte, doch. Er ist vor zwei Wochen aus der Haft freigekommen«, sagte Byrne. »Gegen seine Verurteilung wurde Berufung eingelegt.«
»Aber Sie hatten doch gesagt…«
»Ich weiß. Es tut mir schrecklich leid. Manchmal ist das System…« Byrne beendete den Satz nicht. So etwas konnte man einfach nicht erklären, schon gar nicht einem Menschen, der so verängstigt und wütend war wie Melanie Devlin. Julian Matisse hatte das einzige Kind dieser Frau ermordet. Die Polizei hatte den Mörder verhaftet, das Gericht hatte ihn verurteilt, und das Gefängnis hatte ihn aufgenommen und in einen eisernen Käfig gesperrt. Erinnerungen an das alles blieben zwar immer nahe an der Oberfläche, verblassten aber allmählich. Und jetzt war mit einem Schlag alles wieder da. So sollte es normalerweise nicht laufen.
»Wann wird er wieder eingesperrt?«, fragte sie.
Byrne hatte die Frage erwartet, wusste aber keine Antwort darauf. »Viele Leute arbeiten mit aller Kraft daran, Melanie. Bitte, glauben Sie mir.«
»Sie auch?«
Diese Frage nahm Byrne die Entscheidung ab, mit der er kämpfte, seitdem er es erfahren hatte. »Ja«, sagte er. »Ich auch.«
Melanie schloss die Augen. Byrne konnte sich gut vorstellen, welche Bilder dieser Frau nun durch den Kopf gingen. Gracie als kleines Mädchen. Gracie in einer Aufführung ihrer Highschool. Gracie im Sarg. Nach ein paar Minuten stand Melanie auf. Sie schien sich aus ihrem eigenen Universum gelöst zu haben, als würde sie in der nächsten Sekunde davon schweben. Für Byrne war es das Signal, sich zu verabschieden. Er stand ebenfalls auf.
»Ich wollte nur, dass Sie es von mir persönlich erfahren«, sagte er. »Und ich werde tun, was ich kann, dass er dorthin zurückkehrt, wo er hingehört.«
»Er gehört in die Hölle.«
Darauf hatte Byrne keine Antwort.
Einen peinlichen Augenblick lang standen sie sich gegenüber. Melanie streckte ihm ihre Hand hin. Sie hatten sich nie umarmt. Einigen Menschen war diese Art der Begrüßung und Verabschiedung zu intim. Nach der Gerichtsverhandlung, nach der Beerdigung, sogar als sie sich an dem furchtbaren Tag vor zwei Jahren verabschiedeten, hatten sie sich bloß die Hand gereicht. Diesmal beschloss Byrne, das Ritual zu ändern – für Melanie und für sich selbst. Er streckte die Arme aus und zog sie behutsam an sich.
Im ersten Augenblick sah es so aus, als würde sie Widerstand leisten, doch dann sank sie an seine Brust, und Byrne spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Er hielt sie einen Moment umschlungen…
… die Tür geschlossen, sitzt sie stundenlang in Gracies Zimmer … spricht schließlich in der Babysprache mit Gracies Puppen … sie hat ihren Ehemann seit zwei Jahren nicht berührt…
… bis Byrne sich aus der Umarmung löste, erschüttert von den Bildern in seinem Kopf. Er versprach, bald anzurufen.
Kurz darauf brachte Melanie ihn zur Tür und küsste ihn auf die Wange. Ohne ein weiteres Wort ging Byrne zu seinem Wagen.
Als er wegfuhr, sah er ein letztes Mal in den Innenspiegel. Melanie Devlin stand auf der kleinen Veranda ihres Reihenhauses und schaute ihm nach – ihr Kummer neu entfacht, ihre triste gelbe Kleidung wie ein Schmerzensschrei vor dem Hintergrund der kalten roten Ziegelsteine.
***
Er parkte vor dem leer stehenden Kino, in dem sie Gracie gefunden hatten. In der Stadt ging alles seinen gewohnten Gang. Die Stadt erinnerte sich nicht. Die Stadt scherte sich nicht darum. Er schloss die Augen, spürte den eisigen Wind jener Nacht, sah das
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