Byrne & Balzano 02 - Mefisto
schwindende Licht in den Augen der jungen Frau. Er war im irisch-katholischen Glauben aufgewachsen, und die Behauptung, er sei vom Glauben abgefallen, war eine Untertreibung. Die zerstörten menschlichen Wesen, auf die er in den vielen Jahren als Detective gestoßen war, hatten ihm auf dramatische Weise vor Augen geführt, wie vergänglich das menschliche Leben war und wie schnell es vernichtet werden konnte. Er hatte schrecklich viel Schmerz und Elend und Tod gesehen. Seit Wochen rang er mit der Entscheidung, ob er in den Job zurückkehren oder die Chance ergreifen sollte, nach zwanzig Jahren aus dem Staatsdienst auszuscheiden. Seine Papiere lagen auf dem Schrank im Schlafzimmer und mussten nur noch unterschrieben werden. Doch jetzt wusste er, dass er in den Job zurück musste. Auch wenn es nur für ein paar Wochen war. Wenn er Jimmys Namen reinwaschen wollte, würde ihm das nur gelingen, wenn er weiterhin als Detective seinen Dienst versah.
Als an diesem Abend Dunkelheit die Stadt der Brüderlichen Liebe umschlang, das Mondlicht die Skyline erhellte und die Stadt ihren Namen in Neon schrieb, duschte Detective Kevin Francis Byrne, zog sich an, schob ein neues Magazin in seine Glock und trat hinaus in die Nacht.
6.
Sophie Balzano war schon im Alter von drei Jahren eine sehr modebewusste junge Dame. Zugegeben, wenn sie sich selbst überlassen war und allein über ihre Kleidung bestimmen durfte, präsentierte sie sich gerne in einem Outfit, in dem das gesamte Spektrum von orangerot über lavendel bis hin zu lindgrün und von Karos über Schottenmuster bis hin zu Streifen enthalten war, wobei das Ganze dann mit Accessoires in derselben Bandbreite verziert wurde. Die Zusammenstellung passender Kleidung war nicht ihre Stärke. Sie neigte eher zur Freistilvariante.
An diesem heißen Julimorgen – dem Morgen, an dem eine Odyssee begann, die Detective Jessica Balzano tief in den Schlund des Wahnsinns hineinführen würde – war sie mal wieder spät dran. Zurzeit herrschte im Hause der Balzanos jeden Morgen helle Aufregung. Kaffee, Müsli, Gummibären, verlegte kleine Sneakers, Saftschachteln, Schuhbänder und Verkehrsmeldungen verschmolzen zu einem unentwirrbaren Chaos.
Vor zwei Wochen hatte Jessica sich das Haar kurz schneiden lassen. Seitdem sie ein kleines Mädchen war, hatte sie ihr Haar immer schulterlang und meistens noch länger getragen. Als Streifenbeamtin in Uniform hatte sie es fast immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Zuerst war Sophie ihr ständig hinterhergelaufen und hatte mit kritischem Blick auf den neuen Haarschnitt überlegt, was sie davon zu halten hatte. Nachdem Sophie ihre Mutter eine Woche lang intensiv beäugt hatte, wollte sie sich ihr Haar ebenfalls kurz schneiden lassen.
Jessicas Kurzhaarschnitt war bei der Austragung ihrer Boxkämpfe sicherlich von Vorteil. Sie hatte mit dem Boxsport eigentlich nur aus Jux begonnen, doch mittlerweile war das Boxen ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens geworden. Dank der Unterstützung der gesamten Polizeibehörde war Jessica in bisher vier Kämpfen unbesiegt, und in den Boxzeitschriften erschienen bereits gute Kritiken über sie.
Viele Frauen, die boxten, begriffen nicht, dass man einen Kurzhaarschnitt tragen musste. Wenn man langes Haar hatte und es zu einem Pferdeschwanz zusammenband, flog es jedes Mal hoch, wenn man sich einen leichten Schlag auf den Kiefer einfing, und dann gingen die Punktrichter davon aus, dass die Gegnerin einen sauberen, harten Treffer gelandet hatte. Außerdem hatte langes Haar die Eigenart, sich während des Kampfes zu lösen und in die Augen zu fallen. Jessica hatte ihren ersten K.-o.-Sieg gegen eine Frau namens Trudy ›Kwik‹ Kwiatkowski errungen, die sich in der zweiten Runde eine Sekunde das Haar aus den Augen gestrichen hatte. Als Nächstes konnte Kwik dann die Lichter an der Decke zählen.
Jessicas Onkel Vittorio – ihr Manager und Trainer – führte mit dem Sender ESPN2 Verhandlungen über die Übertragung eines Kampfes. Jessica wusste nicht, ob sie mehr Angst davor hatte, in den Ring zu steigen oder im Fernsehen aufzutreten. Andererseits hatte sie sich nicht ohne Grund JESSIE THE CHAMPION auf ihren Hosenbund sticken lassen.
Wenn Jessica morgens fertig angezogen war, nahm sie normalerweise ihre Dienstwaffe aus der abschließbaren Kassette, die im Wandschrank in der Diele stand. Diesen Gang konnte sie sich seit einer Woche ersparen. Jessica vermisste dieses Ritual und musste zugeben, dass sie sich ohne
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