Byrne & Balzano 02 - Mefisto
Victoria war in diesem Milieu gelandet. Vielleicht glaubte sie nun, er würde sie verurteilen. Zum Glück war es nicht so.
»Ich helfe dir.«
»Das kann ich nicht von dir verlangen, Tori. Aus diesem Grunde bin ich nicht…«
Victoria hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Als ich noch in Meadville wohnte, sagte meine schwedische Großmutter immer: Die Eier können der Henne nichts beibringen. Okay? Es ist meine Welt. Ich helfe dir.«
Auch Byrnes Großmütter irischer Abstammung gaben gerne ihre Weisheiten zum Besten. Dem konnte man nichts entgegenhalten. Er beugte sich vor und nahm Victoria in die Arme. Sie hielten sich einen Moment umschlungen.
»Heute Nacht fangen wir an«, sagte sie. »Ich rufe dich in einer Stunde an.«
Victoria setzte ihre übergroße Sonnenbrille auf, deren Gläser ein Drittel ihres Gesichts verdeckten. Sie stand auf, strich ihm über die Wange und verließ das Restaurant.
Byrne schaute ihr nach, als sie mit wiegenden Schritten davonging. Sie drehte sich um, winkte, warf ihm einen Handkuss zu und verschwand auf der Rolltreppe. Sie war noch immer eine tolle Frau mit einer sexy Figur.
Byrne wünschte Victoria, ihr Glück zu finden, und wusste, dass sie es nicht finden würde.
Er stand auf. Stechende Schmerzen schossen ihm durch die Beine und den Rücken. Sein Wagen stand an der nächsten Straßenecke, doch die Entfernung erschien ihm im Augenblick fast unüberwindbar. Auf den Stock gestützt, lief er durchs Restaurant, fuhr die Rolltreppe hinunter und durchquerte die Eingangshalle.
Melanie Devlin. Victoria Lindstrom. Zwei Frauen, von Traurigkeit, Wut und Angst erfüllt. Ihr einst glückliches Leben war an der schwarzen Seele eines grausamen Mannes zerschellt.
Julian Matisse.
Byrne wusste, dass es jetzt nicht mehr einzig und allein darum ging, Jimmy Purifys Namen reinzuwaschen.
Als er inmitten des Trubels an diesem heißen Sommerabend an der Ecke Siebzehnte und Chestnut stand, wusste Byrne eines mit absoluter Gewissheit: Er würde dafür sorgen, dass Julian Matisse keinem menschlichen Wesen mehr ein Leid zufügte, und wenn es das Letzte wäre, was er mit dem anstellte, was von seinem Leben übrig war.
16.
Der italienische Markt auf der Neunten Straße in Süd-Philadelphia erstreckte sich von der Wharton bis zur Fitzwater Street. Hier konnte man die besten italienischen Lebensmittel in der ganzen Stadt, vielleicht im ganzen Land kaufen: Käse, Naturprodukte, Schalentiere, Fleisch, Kaffee, Kuchen und Brot. Dieser Markt war seit über hundert Jahren der Mittelpunkt von Philadelphias italo-amerikanischer Bevölkerung.
Als Jessica mit Sophie über die Neunte Straße spazierte, dachte sie an die Szene in Psycho. Sie dachte an den Killer, der das Badezimmer betrat, den Vorhang aufzog und das Messer in die Höhe riss. Sie dachte an die Schreie der jungen Frau. Sie dachte an das von Blut überschwemmte Badezimmer.
Sie drückte Sophies Hand ein wenig fester.
Sie waren auf dem Weg zu Ralphs, einem der besten italienischen Restaurants. Einmal die Woche aßen sie dort mit Peter, Jessicas Vater, zu Mittag.
»Na, wie war es in der Schule?«, fragte Jessica.
Der sorgenfreie, unbeschwerte Spaziergang weckte bei Jessica Erinnerungen an ihre eigene Kindheit. Wie schön es wäre, noch einmal drei Jahre alt zu sein.
»In der Vorschule«, verbesserte Sophie sie.
»In der Vorschule«, sagte Jessica.
»Ätzend«, sagte Sophie.
Als Jessica bei der Polizei angefangen hatte, war sie im ersten Jahr in diesem Viertel auf Streife gegangen. Sie kannte jedes Loch in den Bürgersteigen, jeden Riss in den Mauern, jeden Hauseingang, jeden Kanaldeckel…
»Bella ragazza!«
… und jede Stimme. Diese Stimme konnte nur Rocco Lancione gehören, dem Besitzer von Lancione & Sons, dem Lieferanten von gutem Fleisch und Geflügel.
Jessica und Sophie drehten sich zu Rocco Lancione um, der im Eingang seines Ladens stand. Rocco musste mittlerweile Mitte siebzig sein. Er war klein und korpulent, mit pechschwarz gefärbtem Haar und einer schneeweißen, fleckenlosen Schürze, was er der Tatsache zu verdanken hatte, dass seine Söhne und Enkelsöhne mittlerweile alle Arbeiten in der Metzgerei übernahmen. Rocco fehlten zwei Fingerkuppen an der linken Hand – das Berufsrisiko eines Metzgers. Wenn er vor dem Geschäft stand, steckte er seine linke Hand immer in die Tasche.
»Hallo, Mr. Lancione«, sagte Jessica. Egal, wie alt sie selbst war, für sie würde er immer Mister Lancione bleiben.
Mit der rechten Hand griff
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