Byrne & Balzano 1: Crucifix
waren.
»Hat Lauren heute schon zu Hause angerufen?«, fragte Jessica.
»Nein«, erwiderte Bonnie. »Ich habe sie vorhin auf ihrem Handy angerufen, hab aber nur die Mailbox erwischt. Sie schaltet das Handy manchmal aus.«
»Sie haben am Telefon gesagt, dass Lauren das Haus heute Morgen gegen acht Uhr verlassen hat?«
»Ja. Ungefähr.«
»Wissen Sie, wohin sie gegangen ist?«
»Sie wollte Freunde besuchen«, erklärte Bonnie noch einmal, als wollte sie mit dieser Antwort ihre ablehnende Haltung kundtun.
»Kennen Sie die Namen?«
Bonnie schüttelte den Kopf. Offenbar schätzte Bonnie Semanski den Umgang ihrer Enkelin nicht.
»Wo sind Laurens Eltern?«, fragte Jessica.
»Sie sind letztes Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
»Das tut mir Leid«, sagte Jessica.
Bonnie Semanski schaute aus dem Fenster. Der Regen hatte nachgelassen, aber es nieselte noch immer. Zuerst dachte Jessica, die Frau würde weinen; dann aber begriff sie, dass Bonnie Semanskis Tränen schon lange versiegt waren. Die Trauer schien sich in ihrem Herzen festgesetzt zu haben und dort ein eigenes Dasein zu fristen.
»Würden Sie mir bitte sagen, wie es zu diesem Autounfall kam?«, bat Jessica.
»Es war eine Woche vor Weihnachten im letzten Jahr. Carl hatte Nancy im Baumarkt abgeholt, wo sie in Teilzeit arbeitete. Sie wollten in Urlaub fahren, wissen Sie. Nicht wie jetzt. Es war spät und sehr dunkel. Carl muss etwas zu schnell um eine Kurve gebogen sein. Der Wagen kam von der Fahrbahn ab und stürzte in eine Schlucht. Die Sanitäter haben gesagt, dass sie nicht leiden mussten. Sie waren sofort tot.«
Jessica wunderte sich, dass diese Frau beinahe wie eine Außenstehende über den Unfall berichten konnte. Aber vielleicht hatte Bonnie Semanski diese Geschichte schon so vielen Menschen erzählt, dass sie ein wenig Abstand gewonnen hatte.
»War es schwer für Lauren, den Verlust ihrer Eltern zu verschmerzen?«, fragte Jessica.
»O ja, sehr.«
Jessica machte sich detaillierte Notizen.
»Hat Lauren einen Freund?«
Bonnie winkte ab. »Ich komme da nicht mehr mit. Es sind zu viele.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie tauchen ständig hier auf. Zu jeder Tageszeit. Sie sehen aus wie Obdachlose.«
»Wissen Sie, ob Lauren in letzter Zeit von jemandem bedroht wurde?«
»Bedroht?«
»Gibt es vielleicht jemanden, mit dem sie Probleme hat. Jemand, der sie belästigt.«
Bonnie dachte kurz nach. »Nein. Ich glaube nicht.«
Jessica machte sich weitere Notizen. »Ist es Ihnen recht, wenn ich mich ein wenig in Laurens Zimmer umsehe?«
»Nur zu.«
Lauren Semanskis Zimmer lag im ersten Stock auf der Rückseite des Hauses. An der Tür klebte ein verblasster Aufkleber, auf dem stand: Achtung, Spun Monkey Zone. Jessica kannte genug Ausdrücke aus der Drogensprache, um zu wissen dass Lauren Semanski vermutlich keine »Freunde besuchte«, um ein Picknick für die Kirchengemeinde zu organisieren.
Bonnie öffnete die Tür. Jessica trat ein. Im Zimmer standen hochwertige Möbel im französischen Landhausstil – weiß mit goldenen Leisten. Ein Himmelbett, dazu passende Nachttische, Schrank und Schreibtisch. Der lange, schmale Raum war zitronengelb gestrichen. Die Schräge senkte sich auf beiden Seiten bis auf Kniehöhe hinab. An der Wand gegenüber der Tür befand sich das Fenster. Rechter Hand waren eingebaute Bücherregale, links eine Tür in der unteren Wand, vermutlich ein Stauraum. An den Wänden hingen Poster von Rockbands.
Zum Glück ließ Bonnie Jessica in dem Zimmer allein. Jessica war erleichtert. Es hätte ihr gar nicht gefallen, hätte die Großmutter ihr ständig auf die Finger gesehen, während sie in Laurens Sachen stöberte.
Auf dem Schreibtisch standen ein paar Fotos in schlichten Bilderrahmen. Eines war aus der Schule, als Lauren neun oder zehn Jahre alt war. Auf einem Foto war sie mit einem schmuddeligen Jugendlichen vor dem Kunstmuseum abgebildet. Aus einer Zeitschrift hatte sie ein Foto von Russell Crowe ausgeschnitten.
Jessica stöberte in den Schubladen des Schranks. Pullover, Strümpfe, Jeans, Shorts. Nichts Ungewöhnliches. Im Schrank sah es ähnlich aus. Jessica schloss die Schranktür, lehnte sich dagegen und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Denk nach. Warum stand Lauren Semanski auf dieser Liste? Abgesehen davon, dass sie eine katholische Schule besuchte, musste es in diesem Zimmer einen Hinweis auf die rätselhafte Mordserie geben.
Jessica setzte sich an Laurens Computer und überprüfte die Bookmarks
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