Byrne & Balzano 1: Crucifix
im Web-Browser. Eine Adresse lautete ha rd radio.com , in der es um Heavy Metal ging; eine hieß snakenet . Eine andere Adresse fesselte spontan Jessicas Aufmerksamkeit: yellowribbon.org . Zuerst dachte Jessica, es handelte sich um eine Organisation, die sich mit Kriegsgefangenen oder vermissten Soldaten befasste. Als sie sich einloggte und die Website anwählte, erfuhr sie, dass die Seiten sich mit dem Selbstmord Jugendlicher beschäftigten.
Haben Tod und Verzweiflung mich als Jugendliche auch so fasziniert? , fragte sich Jessica.
Vermutlich. Vielleicht eine Frage der Hormone.
Als Jessica in die Küche zurückkam, hatte Bonnie Semanski Kaffee gekocht. Sie goss Jessica eine Tasse ein und setzte sich ihr gegenüber. Auf dem Tisch stand ein Teller mit Vanillewaffeln.
»Ich muss Ihnen noch ein paar Fragen zu dem Unfall im letzten Jahr stellen«, sagte Jessica.
»Kein Problem«, erwiderte Bonnie, doch ihre Miene deutete daraufhin, dass es nicht einfach für sie war.
»Ich verspreche Ihnen, es wird nicht lange dauern.«
Bonnie nickte.
Jessica dachte über die Formulierung ihrer Fragen nach, als sich ein Ausdruck grellen Entsetzens auf Bonnie Semanskis Gesicht legte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Jessica begriff, dass Bonnie nicht sie ansah, sondern über ihre linke Schulter schaute. Jessica drehte sich langsam um und folgte dem Blick der Frau.
Lauren Semanski stand auf der Veranda auf der Rückseite des Hauses. Ihre Kleidung war zerrissen; ihre Fingerknöchel waren aufgescheuert und bluteten. Über ihr rechtes Bein zog sich ein langer Bluterguss; auf dem rechten Arm waren zwei tiefe Schnittwunden. Auf der linken Seite ihres Kopfes fehlte ein großes Stück der Kopfhaut. Ihr linkes Handgelenk war gebrochen; der Knochen hatte das Fleisch durchdrungen. Auf ihrer rechten Wange hing ein blutiger Hautfetzen.
»Liebling?«, krächzte Bonnie, stand auf und schlug eine bebende Hand vor den Mund. Sie war leichenblass. »Mein Gott, was … was ist geschehen , Kind?«
Laurens Blick glitt von ihrer Großmutter zu Jessica. Ihre Augen waren blutunterlaufen, ihr Blick blind. Das traumatische Erlebnis schien ihren inneren Widerstand nicht gebrochen zu haben.
»Der Scheißkerl wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte«, flüsterte Lauren.
Dann brach sie zusammen.
Bevor der Rettungswagen eintraf verlor das Mädchen immer wieder für kurze Zeit das Bewusstsein. Jessica bemühte sich, einen Schockzustand zu verhindern. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass keine Schädigung der Wirbelsäule vorlag, wickelte sie Lauren in eine Decke und legte die Beine hoch. Jessica wusste, dass es für die weitere Behandlung sehr von Vorteil war, wenn die Patientin die Besinnung nicht verlor.
Lauren hatte die rechte Hand fest zur Faust geballt. Und in dieser Hand hielt sie etwas fest, das aus Plastik bestand und scharfe Kanten hatte. Jessica versuchte behutsam, die Hand zu öffnen, was ihr aber nicht gelang. Und Gewalt wollte sie auf keinen Fall anwenden.
Während sie auf den Rettungswagen warteten, stammelte Lauren einzelne Wörter und unzusammenhängende Sätze. Jessica bekam eine verschwommene Vorstellung von dem, was ihr zugestoßen war.
Jeffs Haus.
Kiffer.
Scheißkerl.
Laurens trockene Lippen, die wunden Nasenlöcher, das spröde Haar und die leicht durchscheinende Haut wiesen darauf hin, dass sie vermutlich drogenabhängig war und regelmäßig Speed schniefte.
Nadel.
Scheißkerl.
Ehe Lauren auf die Trage gelegt wurde, öffnete sie einen Moment die Augen, schaute Jessica an und sagte ein Wort, das Jessica einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.
Rosenkranz .
Der Rettungswagen brachte Bonnie Semanski mit ihrer Enkelin ins Krankenhaus. Jessica rief die Wache an und berichtete, was geschehen war. Zwei Detectives machten sich sofort auf den Weg ins St. Joseph’s Hospital. Jessica hatte den Sanitätern strikte Anweisungen erteilt, Laurens Kleidung aufzubewahren und sorgfältig zu behandeln, damit möglicherweise vorhandene Fasern oder Spuren von Körperflüssigkeiten nicht verloren gingen. Sie wies ausdrücklich darauf hin, auf die labortechnische Unversehrtheit dessen zu achten, was Lauren in der rechten Faust hielt.
Jessica blieb noch im Haus der Semanskis. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich zu George Semanski.
»Ihre Enkeltochter wird wieder gesund«, sagte Jessica. Sie hoffte, dass es überzeugend klang und bemühte sich, selbst daran zu glauben.
George Semanski nickte. Er rang noch immer die Hände
Weitere Kostenlose Bücher