Byrne & Balzano 1: Crucifix
ein Foto auf der Dokumentationswand, eine Nahaufnahme von Nicoles linker Hand. »Nicoles linke Handfläche wies frische Druckstellen auf. Diese Kerben wurden durch Druck ihrer eigenen Fingernägel verursacht. In den Kerben wurden Spuren ihres Nagellacks gefunden.«
Jessica stellte sich vor, wie das Mädchen in panischer Angst die Hand zur Faust geballt hatte. Rasch verdrängte sie das Bild und unterdrückte ihre aufkeimende Wut. Ihre Aufmerksamkeit wurde verlangt.
Eric Chavez fuhr mit seinen Ausführungen fort und rekonstruierte Nicole Taylors letzten Tag.
Nicole hatte ihr Wohnhaus in der Callowhill Street gegen zwanzig nach sieben am Donnerstagmorgen verlassen. Sie ging allein die Broad Street hinauf zur Regina Highschool. Sie nahm an allen Unterrichtsstunden teil und aß mit ihrer Freundin Domini Dawes in der Cafeteria zu Mittag. Um zwanzig nach zwei verließ sie die Schule und ging die Broad hinunter. Unterwegs suchte sie das Hole World Piercing-Studio auf. Dort schaute sie sich Körperschmuck an. Nach Angaben der Besitzerin, Irina Kaminsky, wirkte Nicole gelöster und gesprächiger als üblich.
Vom Piercing-Studio aus ging Nicole die Broad Street zur Girard Avenue und dann zur Achtzehnten. Sie betrat das St. Joseph’s Hospital, wo ihre Mutter als Wirtschaftsleiterin arbeitet. Sharon Taylor sagte aus, dass ihre Tochter besonders guter Laune gewesen sei, weil eine ihrer Lieblingsbands, Sisters of Mercy, am Freitagabend im Trocadero Theatre spielte und sie Karten hatte.
Mutter und Tochter aßen in der Cafeteria einen Früchtebecher. Sie sprachen über die Hochzeit einer Cousine Nicoles im Juni und die Notwendigkeit, dass Nicole zu diesem Anlass »wie eine Dame« aussehen müsse – ein Thema, das einen ständigen Streit zwischen Mutter und Tochter bewirkte.
Gegen vier Uhr verließ Nicole das Krankenhaus durch den Ausgang Girard Avenue.
Und dann verschwand sie spurlos.
Nach dem bisherigen Ermittlungsstand tauchte Nicole Taylor erst wieder auf, als der Sicherheitsdienst sie fast vier Tage später auf der Gänseblümchenwiese in den Bartram Gardens fand. Der Bereich des Krankenhauses wurde noch überprüft.
»Hatte ihre Mutter eine Vermisstenanzeige aufgegeben?«, fragte Jessica.
Chavez blätterte seine Notizen durch. »Ja, um ein Uhr zwanzig Freitagnacht.«
»Niemand hat sie mehr gesehen, nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatte?«
»Niemand«, erwiderte Chavez. »Aber an den Eingängen des Krankenhauses und auf den Parkplätzen sind Überwachungskameras installiert. Die Bänder sind unterwegs zu uns.«
»Freunde?«, fragte Shepherd.
»Nach Angabe von Sharon Taylor hatte ihre Tochter derzeit keinen festen Freund«, sagte Chavez.
»Was ist mit ihrem Vater?«
»Donald P. Taylor ist Fernfahrer und im Augenblick irgendwo zwischen Taos und Santa Fe unterwegs.« Chavez ließ den Blick in die Runde schweifen. »Okay. Sobald wir hier fertig sind, suchen wir die Schule des Mädchens auf und lassen uns eine Liste ihrer Freundinnen geben.«
Da es im Augenblick keine weiteren Fragen gab, trat Byrne wieder nach vorn.
»Die meisten von euch kennen Charlotte Summers«, sagte Byrne und wandte sich nun der siebten Person im Raum zu. »Für diejenigen, die sie nicht kennen, stelle ich Dr. Summers kurz vor. Sie ist Professorin für Kriminalpsychologie an der University of Pennsylvania. Von Zeit zu Zeit unterstützt sie uns bei der Erstellung eines Täterprofils.«
Jessica kannte Charlotte Summers nur vom Hörensagen. Ihr berühmtester Fall war das erfolgreiche Profiling von Floyd Lee Castle, einem Psychopathen, der im Sommer 2001 in und um Camden Jagd auf Prostituierte gemacht hatte.
Dass Charlotte Summers bereits eingeschaltet war, bewies jedenfalls, dass den Ermittlungen absolute Priorität eingeräumt wurde und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das FBI entweder um Mithilfe bei den Ermittlungen oder um Unterstützung der Kriminaltechniker gebeten wurde.
Charlotte Summers erhob sich und stellte sich neben die Dokumentationswand. Sie war Ende vierzig, von kleiner Statur und schlank, mit hellblauen Augen und einem Bubikopf. Sie trug ein geschmackvolles, cremefarbenes Kostüm mit Streifen und eine lavendelfarbene Seidenbluse. »Ich weiß, dass alle hier zu der Annahme neigen, es könnte sich bei unserem Täter um einen Glaubensfanatiker handeln«, sagte Summers. »Aber ich muss Sie warnen. Die Mutmaßung, ein Glaubensfanatiker wäre impulsiv und leichtsinnig, ist falsch. Unser Killer hat seine Taten bis
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