Byrne & Balzano 3: Lunatic
ins Gebäude zurück.
14.
S ie trafen sich jede Woche im Untergeschoss der Kirche. Manchmal kamen nur drei Personen, ein anderes Mal mehr als ein Dutzend. Einige Leute kamen immer wieder. Einige erschienen nur einmal, luden ihren Kummer ab und ließen sich nie wieder blicken. Die New-Page-Kirche bat um keine Beiträge und keine Spenden. Die Tür war stets geöffnet. Manchmal klopfte es mitten in der Nacht, oft an Feiertagen, und es gab immer Kaffee und Kuchen. Das Rauchen wurde nicht verboten.
Sie würden sich nicht mehr lange im Untergeschoss der Kirche treffen. Dank großzügiger Spenden war es möglich, bald helle, große Räume in der Second Street zu beziehen. Das Gebäude wurde derzeit renoviert. Die Wände wurden gerade mit Rigipsplatten verkleidet und sollten anschließend gestrichen werden. Mit ein bisschen Glück konnten sie sich zu Beginn des neuen Jahres dort treffen.
Das Untergeschoss der Kirche war zurzeit ein sicherer Zufluchtsort und ein vertrauter Platz, wie seit Jahren schon. Hier wurden Tränen vergossen, Meinungen überdacht und Lebenskrisen diskutiert. Für Pastor Roland Hannah war es ein Tor zu den Seelen seiner Gemeindemitglieder, die Quelle eines Flusses, der tief in ihre Herzen strömte.
Sie alle waren Opfer von Gewaltverbrechen geworden, oder sie waren zumindest mit einem Opfer verwandt. Diebstähle, Überfälle, Einbrüche, Vergewaltigung, Mord. Kensington war ein heruntergekommener Stadtteil, und fast jeder, der hier lebte, war irgendwann mit dem Verbrechen konfrontiert worden, ob direkt oder indirekt. Diejenigen, die hierherkamen, wollten darüber sprechen. Es waren die Menschen, deren Leben sich durch das Erlebte verändert hatte und deren Seelen nach Antworten schrien, nach einem Sinn und nach Erlösung.
Heute saßen sechs Personen in einem Halbkreis auf Klappstühlen.
»Ich habe ihn nicht gehört«, sagte Sadie. »Er war leise. Er hat sich mir von hinten genähert, verpasste mir einen Schlag auf den Kopf, riss mir die Handtasche weg und rannte davon.«
Sadie Pierce war Mitte siebzig. Sie war eine schmächtige, magere Frau, deren Hände die typischen Knoten einer Arthritis aufwiesen und deren dünnes Haar mit Henna gefärbt war. Stets war sie von Kopf bis Fuß in leuchtend rote Farben gekleidet. Sadie war früher Sängerin gewesen. In den Fünfzigerjahren war sie im Catskill Circuit aufgetreten und hatte sich als Scarlet Trush einen Namen gemacht.
»Hat man Ihre Tasche gefunden?«, fragte Pastor Roland.
Sadie starrte ihn nur an, und das genügte als Antwort. Jeder wusste, dass die Polizei keinen großen Ehrgeiz hatte, die geflickte, abgestoßene Handtasche einer alten Frau aufzuspüren, egal was die Tasche enthielt.
»Wie kommen Sie damit zurecht?«, fragte Roland.
»Es geht so«, sagte Sadie. »Es war nicht viel Geld in der Tasche, aber persönliche Dinge. Fotos von meinem Henry. Und dann meine ganzen Papiere. Heute kann man sich ohne Ausweis ja kaum noch eine Tasse Kaffee kaufen.«
»Sagen Sie Charles, was Sie brauchen, und wir werden dafür sorgen, dass Sie das Fahrgeld für den Bus bekommen, damit Sie zu den zuständigen Ämtern fahren können.«
»Danke, Herr Pastor«, sagte Sadie. »Gott segne Sie.«
Die Treffen in der New-Page-Kirche waren ungezwungen, verliefen jedoch immer nach einem bestimmten Schema. Wenn jemand sprechen wollte, aber noch Zeit brauchte, um seine Gedanken zu ordnen, setzte er sich rechts neben Pastor Roland. So ging es weiter.
Neben Sadie Pierce saß ein Mann namens Sean. Seinen Nachnamen kannte niemand. Er war in den Zwanzigern, ruhig, höflich und bescheiden. Sean war vor etwa einem Jahr zu der Gruppe gestoßen und hatte mehr als zehnmal an den Sitzungen teilgenommen. Anfangs war er unsicher gewesen und hatte sich sehr zurückgehalten wie jemand, der mit einem Zwölf-Punkte-Programm der Anonymen Alkoholiker oder der Anonymen Spieler begann und nicht sicher war, ob er die Gruppe brauchte und ob sie ihm überhaupt helfen konnte. An manchen Tagen war Sean nur ein paar Minuten geblieben. Doch mit der Zeit wurde er zugänglicher. Jetzt saß er bei der Gruppe, und immer legte er eine kleine Spende in den Klingelbeutel. Doch seine Geschichte hatte er bisher noch nicht erzählt.
»Willkommen, Bruder Sean«, sagte Roland.
Sean errötete leicht und lächelte. »Hallo.«
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Roland.
Sean räusperte sich. »Ganz gut, glaube ich.«
Es war schon einige Monate her, da hatte Roland Sean eine Broschüre der Hilfsorganisation
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