Byrne & Balzano 3: Lunatic
bei psychischen Problemen gegeben. Er glaubte nicht, dass Sean sich schon an die Organisation gewandt hatte. Roland fragte auch nicht danach, denn das hätte alles vielleicht noch schlimmer gemacht.
»Würden Sie uns heute gerne etwas erzählen, Sean?«, fragte Roland.
Sean zögerte und wrang die Hände. »Nein. Ich möchte nur zuhören.«
»Der Herr liebt Zuhörer«, sagte Roland. »Gott segne Sie, Bruder Sean.«
Roland wandte sich der Frau zu, die neben Sean saß. Sie hieß Evelyn Reyes. Sie war kräftig, Ende vierzig, Diabetikerin, und ging meistens mit einem Stock. Sie hatte noch nie vor der Gruppe gesprochen. Roland erkannte, dass die Zeit nun gekommen war. »Wir alle wollen Schwester Evelyn willkommen heißen.«
»Willkommen«, sagten alle.
Evelyns Blick schweifte von einem zum anderen. »Ich weiß nicht, ob ich das kann ...«
»Sie sind im Hause des Herrn, Schwester Evelyn. Sie sind hier unter Freunden. Hier kann Ihnen nichts geschehen«, sagte Roland. »Glauben Sie mir?«
Evelyn nickte.
»Bitte laden Sie Ihr Leid ab«, sagte Roland. »Wenn Sie bereit dazu sind.«
Stockend begann Evelyn zu erzählen. »Es hat schon vor langer Zeit angefangen.« Tränen traten ihr in die Augen. Charles brachte ihr eine Schachtel Kleenex, zog sich wieder zurück und setzte sich auf seinen Stuhl neben der Tür. Evelyn zog ein Papiertuch heraus, tupfte sich die Augen ab und murmelte Charles ein »Danke« zu. Es dauerte eine Weile, ehe sie fortfuhr. »Wir waren damals eine große Familie. Zehn Geschwister. Über zwanzig Cousins und Cousinen. Im Laufe der Jahre heirateten wir alle und bekamen Kinder. In jedem Jahr fand ein großes Familientreffen statt, und wir machten oft ein Picknick.«
»Wo haben Sie sich getroffen?«, fragte Roland.
»Im Frühling und im Sommer trafen wir uns manchmal auf dem Belmont Plateau. Doch meistens bei mir zu Hause. Drüben in der Dritten, wissen Sie?«
Roland nickte. »Fahren Sie bitte fort.«
»Nun, meine Tochter Dina war damals noch ein kleines Mädchen. Sie hatte große braune Augen. Ein schüchternes Lächeln. Aber kein Interesse an Puppen, wissen Sie? Sie interessierte sich mehr für die Spiele der Jungen.«
Evelyn legte die Stirn in Falten und atmete tief ein.
»Wir wussten es damals nicht«, sagte sie. »Aber bei einem dieser Familientreffen hatte sie ... Probleme mit jemandem.«
»Mit wem?«, fragte Roland.
»Es war ihr Onkel Edgar. Edgar Luna. Der Mann meiner Schwester. Jetzt ihr Ex-Mann. Sie spielten immer zusammen. Jedenfalls glaubten wir das damals. Edgar war ein Erwachsener, aber wir haben uns nichts dabei gedacht. Er gehörte schließlich zur Familie, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Roland.
»Im Laufe der Jahre wurde Dina immer stiller. Als Jugendliche spielte sie kaum mit Freundinnen, ging nicht ins Kino und nicht in die Stadt. Wir dachten alle, sie hätte in der schwierigen Zeit der Pubertät plötzlich Hemmungen bekommen oder so etwas. Sie wissen ja, wie Kinder manchmal sind.«
»O ja«, sagte Roland.
»Nun, die Zeit verging. Dina wuchs heran. Und dann, vor ein paar Jahren, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Sie konnte nicht mehr arbeiten, konnte fast gar nichts mehr tun. Professionelle Hilfe konnten wir uns nicht leisten, deshalb haben wir alles getan, was in unserer Macht stand.«
»Natürlich. Davon bin ich überzeugt.«
»Eines Tages, vor nicht allzu langer Zeit, habe ich dann das hier entdeckt. Es war im obersten Fach von Dinas Schrank versteckt.« Evelyn griff in ihre Handtasche und zog einen Brief hervor, der auf rosafarbenem Papier geschrieben war. Es war Briefpapier für Kinder mit verstärkten Ecken, das oben mit hübschen bunten Luftballons verziert war. Sie faltete den Brief auseinander und reichte ihn Roland. Oben stand ein Datum aus dem Jahre 1990. Der Brief war »an den lieben Gott« gerichtet.
»Sie hat es geschrieben, da war sie acht Jahre alt«, sagte Evelyn.
Roland las den Brief von Anfang bis Ende durch. Er war mit der unschuldigen Handschrift eines Kindes geschrieben. Der Brief erzählte die entsetzliche Geschichte wiederholten sexuellen Missbrauchs. Ein Abschnitt nach dem anderen schilderte, was Onkel Edgar Dina im Keller ihres eigenen Hauses angetan hatte. Roland spürte Wut in sich aufsteigen und bat den Herrn, er möge ihm Kraft geben, nicht die Beherrschung zu verlieren.
»So ging es jahrelang «, sagte Evelyn.
»In welchen Jahren war das?«, fragte Roland. Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in seine Hemdtasche.
Evelyn
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