Byrne & Balzano 4: Septagon
An seine Fälle zu Hause. So war das Leben.
Byrnes Gedanken schweiften von Caitlin O’Riordan zu Laura Somerville und dann zu Eve Galvez.
Eve. Irgendwie hatte er geahnt, dass ihr etwas zugestoßen war. Mit einem solch grausamen Schicksal hatte er natürlich nicht gerechnet, doch er hatte gewusst, dass etwas Furchtbares passiert war. Zwar hatte er im Stillen gehofft, sich vielleicht doch geirrt zu haben, aber ...
Byrne spürte eine Hand auf dem Arm.
Er drehte sich um. Als er seine Tochter Colleen sah, schlug sein Herz höher.
»Hallo, Dad«, sagte sie in der Gebärdensprache.
»Hallo.«
Als Colleen ihn umarmte, ging für Byrne die Sonne auf.
Sie schlenderten die Market Street Richtung Schuylkill River hinunter. Die Sonne brannte sengend heiß vom Himmel. Die Passanten strömten an Vater und Tochter vorbei.
»Du siehst gut aus«, sagte Colleen in ihrer Sprache. » Richtig gut.«
Colleen Siobhan Byrne war von Geburt an gehörlos, doch seit ihrem siebten Lebensjahr beherrschte sie die amerikanische Gebärdensprache. Zurzeit unterrichtete sie diese Sprache stundenweise an einer Schule in der Innenstadt. Auch ihr Vater konnte sich inzwischen sehr gut in der Gebärdensprache verständigen.
»Ich arbeite daran«, sagte Byrne. Er hatte sich nur langsam von den Folgen einer Schussverletzung vor drei Jahren erholt. Als an einem regnerischen Morgen im vergangenen Frühjahr sein ganzer Körper höllisch schmerzte – einschließlich der Augenbrauen, der Fußknöchel und der Zunge –, hatte er eingesehen, dass es so nicht weiterging. Er musste etwas tun. Vor dem Spiegel hatte er ein Gespräch von Mann zu Mann geführt. Wenn er jetzt nichts unternahm, das wusste er, würde er sich nie mehr dazu aufraffen. Byrne hatte erwogen, einen Yogakurs zu besuchen, hatte sich dann aber erst einmal Yoga-CDs besorgt und Atemübungen gemacht. Doch das würde er niemandem erzählen. Nicht einmal seiner Tochter. Außerdem hatte er zweimal die Woche mit Gewichten trainiert. Alles, um keine Physiotherapie machen zu müssen.
»Hast du trainiert?«, fragte sie.
»Ein bisschen«, erwiderte Byrne.
»Ein bisschen? « Colleen umklammerte seinen linken Oberarm und drückte auf seine Muskeln. »Übertreib’s bloß nicht, Dad«, bedeutete sie ihm. »Meine Freundinnen finden dich total cool, so wie du bist.«
Byrne errötete. Niemand konnte ihn so sehr in Verlegenheit bringen wie seine Tochter.
Colleen hakte sich bei ihm unter.
In der Einundzwanzigsten Straße kamen ihnen zwei Jungen mit Stachelfrisuren entgegen. Beide waren um die siebzehn und trugen zerrissene Jeans und schwarze T-Shirts mit irgendeiner Todesbotschaft. Unverhohlen begafften sie Colleen, die in ihrem weißen Sommerkleid umwerfend aussah. Dann wanderten ihre Blicke zu Byrnes Gesicht, dann wieder zurück zu Colleen. Sie stießen einander in die Rippen, als wollten sie sagen: Dass die Süße taub ist, macht sie noch heißer. Die beiden Jungen grinsten Colleen an. Byrne hätte sie am liebsten auf der Stelle abgeknallt.
Als sie an einer Ampel auf der Zweiundzwanzigsten stehen blieben und auf Grün warteten, wusste Byrne, dass er seine Tochter jetzt fragen musste. Er wandte sich ihr zu.
»Also, was hat das alles zu bedeuten?«, fragte er.
Vor zwei Tagen hatte Donna Sullivan Byrne, Kevins Ex-Frau und Colleens Mutter, aus heiterem Himmel angerufen und erklärt, sie wolle sich mit ihm zum Mittagessen treffen. Einfach so. Zum Mittagessen! Das grenzte fast an ein Wunder. Seit ihrer Flirtphase vor fast achtzehn Jahren waren sie kaum zum Mittagessen aus gewesen.
Ihre Scheidung war relativ friedlich abgelaufen – wenn man den Krimkrieg als friedlich bezeichnen will. Nur Colleen zuliebe hatten sie sich darauf geeinigt, sich hin und wieder zu treffen. Doch bei dem Telefonat vor zwei Tagen hatte Donna ihn sehr an die alte Donna erinnert. Sie hatte mit ihm geflirtet und schien glücklich zu sein. Glücklich, mit ihrem Ex zu sprechen. Man musste kein Detective sein, um zu erkennen, dass sie irgendetwas im Schilde führte. Doch Byrne hatte nicht die geringste Ahnung, was es war.
Natürlich hatte er kaum mehr als zwei Stunden an einem Stück geschlafen, weil er die ganze Nacht darüber nachgegrübelt hatte.
»Ich schwöre, ich weiß es nicht«, sagte Colleen mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Sie blieb vor einer Zeitungsbox stehen, einer von einem halben Dutzend, und zog ein Exemplar des Report heraus – das wöchentlich erscheinende, kostenlose Sensationsblatt in Philly. Doch selbst
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