Byzanz - Konstantinopel - Istanbul
mehr und mehr auch gezielt europäische Repräsentationsstandards, was sich häufig an prominenten
Bauwerken wie eben dem Dolmabahçe-Palast feststellen lässt. Der Lebensmittelpunkt der osmanischen Dynastie begann sich von
nun an immer stärker an die Ufer des Bosporus zu verlagern, und das zuvor nach außen hin verschlossene Serail-Leben glich
sich ein wenig den europäischen Gewohnheiten an.
So wurde unter Sultan Abdülmecid I. der Bau einer neuen Residenz in Auftrag gegeben und von den Architekten Garabet und Nikoğos
Balyan zwischen 1843 und 1856 ausgeführt. Beide Baumeister hatten eine europäische Ausbildung genossen und ließen entsprechend
Elemente des französischen Barock, des deutschen Rokoko sowie der italienischen Renaissance in ihre Konzeption einfließen,
gaben dem Ganzen aber ein osmanisches Gepräge. Die dem Wasser zugewandte Seite weist hierbei stärkere europäische Bezüge auf,
während die abgewandte Fassade den osmanischen Prinzipien mit hohen Mauern und deutlicher Gliederung folgt. Der Komplex, der
vorher an dieser Stelle gestanden hatte, wurde für die Neukonzeption vollständig abgerissen, mit der Begründung, der Holzbau
sei für die weitere Nutzung ungeeignet. Die Baukosten des ehrgeizigen Projekts (14 Tonnen Gold wurden allein für die Verzierung
der Decken verwendet) waren enorm und belasteten die Staatskasse mit etwa einem Viertel der jährlichen Steuereinnahmen, was
sich in der finanziellen Handlungsfähigkeit des Staates deutlich bemerkbar machte.
Der neue Baukomplex besteht aus einem Hauptgebäude sowie 16 Nebengebäuden, die Stallungen und Versorgungseinrichtungen, aber
auch etwa eine Glaserei und eine Gießerei beherbergten. Im ausgehenden 19. Jh. wurde er unter Abdülhamid II. (1876–1909) um
einen Uhrenturm und die Hareket-Villen erweitert. Das dreiflügelige Hauptgebäude verfügte über jeweils einen Flügel für Staatsgeschäfte
und Empfänge (
Mabeynı Hümayun
), einen für Festlichkeiten (
Muyade Salon
) und einen als Privatgemach der Herrscherfamilie (
Haremı Hümayun
).
Der Mabeynı Hümayun, der über den Eingangssaal, von dem die sog. »Kristalltreppe« ins Obergeschoss führt, betreten wird, ist
von den drei Flügeln sicherlich der prunkvollste. Für unterschiedliche Zwecke, wie etwa Empfänge oder Audienzen, stellte der
Palast gleich mehrere Salons. Der Muayede-Salon, der eine Fläche von etwa 2000 m 2 einnimmt und mit seiner 36 m hohen Kuppel, seinen 56 Säulen und einem riesigen englischen Kristalllüster – einem Geschenk
von Königin Victoria (1837–1901) – den eindrucksvollsten Raum des Palasts darstellt, bildetet den Übergang zwischen dem Flügel
für Staatsgeschäfte und den Privatgemächern. Für die Wärme sorgte ein Heizsystem, das Warmluft aus dem Keller nach oben leitete.
Die Privaträume sind vom übrigen Teil durch eine Eisentür sowie eine Holztür abgetrennt, womit man, trotz aller Annäherung
an europäischen Vorstellungen, der osmanischen Tradition folgt, wenngleich die Gemächer nicht mehr wie im Topkapı-Palast in
einem separaten Gebäude untergebracht sind.
|138| Der Palast erstreckt sich malerisch entlang des Bosporus auf einer Länge von 600 m und hat eine Gesamtfläche von etwa 45 000 m 2 . Insgesamt beherbergt er 46 Säle und neben 285 Zimmern noch 6 Hamams und 68 Baderäume. Entgegen dem Äußeren weißt der einschließlich
Kellergeschoss dreistöckige Bau in der Anordnung der Räume sowie in der Einrichtung die traditionelle Form osmanischer Architektur
auf. Während die Außenmauern aus Stein errichtet wurden, sind die Mauern im Inneren aus Ziegeln gemauert, die Inneneinrichtung
besteht aus Holz. Auf weiten Teilen des Parkettfußbodens liegen annähernd 4500 m 2 Teppiche, hergestellt in der Teppichweberei des Hofs und später in den Fabriken von Hereke.
Die Tradition machte manche Besonderheiten in der Konzeption notwendig: Während sich bei europäischen Repräsentationsbauten
in der Regel das Hauptportal an der Frontseite – meist zentral – befindet, trägt der Dolmabahçe-Palast dadurch, dass der Hauptzugang
an der südlichen Schmalseite angelegt ist, der Sitte Rechnung, den Harem von der Außenwelt zu trennen. Er ist eines der ersten
Beispiele osmanischer Bauplanung, bei der das Gebäude nicht im Laufe der Zeit, entsprechend der sich ändernden Bedürfnisse,
organisch wuchs, sondern (von wenigen späteren Ergänzungen abgesehen) einem von Anfang an vorgegebenen
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