Byzanz
»warum diese ganze Bosheit, der Verrat, diese Niedertracht?«
Dschuneid sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Die Soldaten wollten ihn wieder auf die Knie zwingen, doch der Wesir hob die Hand zum Zeichen, dass man den Emir gewähren lassen sollte.
»Bosheit, Verrat, Niedertracht nennst du das? Hör zu! Ich nenne es Herrschaft. Die Zeit, in der ich geboren wurde, kennst du nur aus den Erzählungen der Dichter. Mein Vater liebte Gott mehr als meine Mutter und mich. Kaum begann ich zu laufen, da verließ er uns und schloss sich den Sufis an. Ich weiß nicht, ob er zur Suhrawardiyya oder zur Mevleviyya oder zur Baddiyya gegangen ist oder wie die verfluchten Orden alle heißen mögen. Wir jedenfalls wurden in die Sklaverei nach Baktrien in die verfluchte Stadt Balch verkauft. Die Arbeitsteilung in unserer Familie war ganz einfach: für meinen Vater der Himmel, für meine Mutter und mich die Hölle. Und jetzt verrate ich dir etwas, das ich noch nie jemandem im Leben erzählt habe, und ich tue es nur, damit du selbstgerechter Geck von deinem angemaßten Thron heruntersteigst. Denke in der Stunde deines Todes an das, was ich dir jetzt sage! In einem Alter, wo andere Schreiben und Lesen lernen, steckte mein Besitzer mich in Kleider von Tänzerinnen und ließ mich im Bauchtanz ausbilden.«
Der Wesir erbleichte, er hatte Gerüchte über das brutale Vergnügen baktrischer Stammesführer gehört, über das widerwärtige Verbrechen, das sie baccha baazi nennen und kleinen Jungen antun.
»Immer, wenn mein Gebieter Gäste hatte, musste ich vor den Männern tanzen. Ihre triefenden Blicke griffen schon während des Tanzes nach meinem Körper. Ich drehte mich schneller und schneller. Ihre Blicke schwitzten. Dann, in dem Moment, in dem die Musik endete, fielen sie über mich her. Verlauste Stammeshäuptlinge mit ihrem fauligen Atem. Ich hätte zerbrechen können, ich bin nicht zerbrochen. Stattdessen habe ich meinem Gebieter, als sich die Gelegenheit bot, eine spitze Tonscherbe durch das Auge ins Hirn gestoßen und bin in die Berge geflohen. Dort traf ich auf einen jungen, aber sehr talentierten Krieger, Timur ibn Taraghai Barlas, den sie später Timur Lenk nannten. Er fühlte sich zum Herrscher berufen, und ich folgte ihm durch seine Niederlagen und durch seine Siege. Als er im Jahr 1402 Smyrna eroberte, setzte er mich zur Belohnung für meine treuen Dienste als Emir ein. Kurz darauf schlugen wir Sultan Bayazid, den ihr Yildirim nennt, führten den Sultan in die Gefangenschaft, und ich war es höchstpersönlich, der seinem Sohn Mustafa den Kopf abschlug.«
»Du wusstest also, dass der echte Mustafa tot war?«
»Ja, aber ich wusste auch, dass nur einer dies wirklich genau wusste, nämlich ich. Also suchte ich einen Jüngling, der eine Ähnlichkeit mit Mustafa aufwies, und bildete ihn aus. Als die Zeit reif war, präsentierte ich den Prinzen Mustafa, der die Herrschaft, die Sultan Mehmed gestohlen hatte, zurückforderte.«
»Aber warum, du hattest doch dieses wunderschöne Emirat?«
»Nach dem Sieg über Bayazid bei Ankyra zog sich Timur überraschend nach Choresmien zurück. Dabei wollten wir doch zusammen die Welt erobern.« Plötzlich leuchteten die Augen des Alten, seine Gesichtszüge strafften sich und es hatte für einen Moment den Anschein, als würde er wieder jung werden, bevor sie jäh verloschen. »Aber mein Herr war blind geworden, nicht nur im physischen Sinn. Statt nach Westen zog er nach Osten, verschenkte er den Sieg, weil er die Chinesen, denen er Tribut zahlen musste, in die Knie zwingen wollte. In einem traurigen Provinznest auf dem Weg von Ankyra nach China wurde er besiegt. Von keinem Mann, keiner Frau, keinem Kind, vom Alkohol, der ihn mehrere Tage in seinen nassen Fängen hielt, bevor er ihm die Schlagader zudrückte.« Wie die Schwingen eines großen Reihers senkte sich die Traurigkeit auf den alten Emir. »Sollte ich warten, bis ihr mir mein Fürstentum wieder abnehmt, oder nicht lieber versuchen, Herrscher über Anatolien und Rumelien, freilich anfangs durch den falschen Mustafa hindurch, zu werden? Aber ich habe einen Fehler gemacht, nur einen einzigen, doch der war entscheidend. Ich hatte den falschen Mann ausgewählt. Dem falschen Mustafa fehlte letztlich der Adel der Person, der Mut des Herrschers. Als er gesehen hatte, dass weniger Krieger zur Schlacht erschienen waren als angekündigt, lief er einfach fort, hoffte wohl, dass er sich für den Rest seines Lebens als Bauer verstecken
Weitere Kostenlose Bücher