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Byzanz

Byzanz

Titel: Byzanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fleming
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ganzes Leben nicht mehr vergessen. Eigentlich konnte man dieses eigentümliche Starren nicht Blick nennen, es war eher angehalten oder ausgesetzt, wie das Leben für eine gewisse Zeit aussetzt. In diesem Blick war kein Schauen, dennoch wirkte er nicht tot, eher erstarrt oder wie unter Eis. Wie ein angehaltener Schrei, in der Luft stehen gebliebene Laute. Offensichtlich war es Morpheus gelungen, den Körper in eine Lähmung zu versetzen. Der Kapitän stand im Banne des Blicks seiner Frau, der nach innen ging. Allmählich begriff er, dass Eirene nicht aus ihren Augen in die Welt hinausschaute, sondern die Welt in sich hineinsog. So erging es auch Loukas. Immer tiefer verschwand er in ihr. Ihm schwindelte. Nichts würde von ihm bleiben. Würde er in aller Ewigkeit in ihr leben können?
    »Komm, Loukas, komm her, schnell«, rief ihm die Ärztin zu. Dass sie ihn duzte, fiel weder ihm noch ihr auf. Der Bann war gebrochen. Loukas wandte sich um und sah ein kleines Wesen, das sich rekelte und schließlich zu schreien begann. »Ein Mädchen. Und es lebt!«, rief die Ärztin mit einer Freude, die er nie bei ihr gesehen hatte, mit dem naiven Frohsinn eines Kindes. Die Ärztin legte es auf den Tisch, band die Nabelschnur ab und schnitt sie durch. Eine der Gehilfinnen nahm ihr das Kind ab, die andere reichte der Ärztin einen Sud aus Knoblauch, Salbei, Alraun, Fenchel und ein paar anderen Kräutern, den sie zum Desinfizieren benutzte, bevor sie Eirenes Wunde nähte.
    Die Gehilfin wusch das Kind vorsichtig und reichte es Loukas. Der Kapitän schaute auf seine kleine Tochter und wusste, dass er die Welt in seinen Armen hielt. Sie bewegte langsam den Kopf, als versuchte sie, sich zu orientieren. Verschreckt wirkte sie. Verunsichert, ausgesetzt in einer fremden Welt, zu hell, zu kalt, ohne die Geborgenheit, die der Bauch der Mutter neun Monate lang geboten hatte. »Jetzt bist du da, Anna!«, sagte er leise, aber bestimmt, und eine Welle des Glücks durchströmte seinen ganzen Körper. Ein Schrei brach sich aus dem geschundenen Körper Eirenes Bahn. Ein schrecklicher, aber auch befreiender Schrei. Die Wirkung der Betäubung ließ nach. Loukas zeigte seiner Frau das Kind, ihr Kind, das er auf dem Arm hielt. In ihren Augen brannte der Schmerz und regte sich das Glück. Qual und unsägliche Freude kämpften in ihren Pupillen miteinander.
    »Fertig«, sagte leise die Ärztin und wusch die Naht mit dem desinfizierenden Sud, bevor sie ein Tuch mit einer Salbe um den Unterleib wickelte. Eirene wirkte sehr schwach, und Morpheo gab ihr ein Getränk aus Rotwein, Weinbrand, viel Honig, Mohn, Lavendel und Rosmarin zu trinken. Er beobachtete, wie sie die Kräfte verließen und sie in einen tiefen Schlaf fiel. Loukas schaute abwechselnd zu seiner Frau und zu seiner Tochter. Beide sahen vollkommen erschöpft aus. »Ach, ihr beiden«, fasste er sein Glück kurz und bündig zusammen. Eine Gehilfin nahm ihm das Kind ab. »Danke«, sagte er zur Ärztin.
    »Noch sind wir nicht übern Berg. Wenn sich die Wunde nicht entzündet und sie gut verheilt, dann erst haben wir es geschafft.« In diesem Moment schwappte aus Eirenes Unterleib eine rotschwarze Masse, die übel roch. Als sei es das Schönste auf der Welt, lächelte Martina Laskarina. »Die Nachgeburt ist draußen. Daran kann sie sich nicht mehr vergiften.« Loukas spürte die Erleichterung der Ärztin, aber indem er sie fühlte, erkannte er die hohe Anspannung, unter der sie stand, obwohl sie sich äußerlich nichts anmerken ließ. Er bewunderte diese Frau. Und dann fragte er sich, wie verrückt die Welt eigentlich war. Da gab es Menschen, die ihre Zeit mit nichts anderem zubrachten, als andere Menschen zu töten, manche verwandten sogar noch viel Einfallsreichtum darauf, in kürzester Zeit möglichst viele ihrer Artgenossen zu ermorden, während diese kleine Frau ihre ganze Energie, ihr ganzes Leben, ihre Kunst dafür einsetzte, Leben auf die Welt zu bringen und Leben zu retten. Wie schwer ist doch der Weg des Menschen, um auf die Welt zu kommen, und wie leicht kann er erschlagen werden. Welch Irrsinn, dachte Loukas Notaras angesichts seiner Tochter. Die Priester sprachen gern vom Wunder des Lebens. Er empfand den Ausdruck immer als allzu blumig, ja sogar als kitschig. Seine kleine Tochter, die mit so viel Mühe auf die Welt geholt wurde, ließ ihn zum ersten Mal das Wort vom Wunder des Lebens verstehen, fühlen und vor allem für angemessen halten für eine geradezu sachlich-karge Beschreibung

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