Byzanz
dessen, was sich eigentlich jeder Benennung entzog.
Er fühlte die Hand seiner Mutter auf der Schulter. »Kein Sohn«, meinte sie, als müsste sie sich für ihre falsche Prognose entschuldigen. Er warf noch einmal ein Blick zu seiner Tochter, an der er sich gar nicht sattsehen konnte, denn es schien ihm schier unbegreiflich, dass sie auf der Welt war. »Was spielt das für eine Rolle, Mutter? Es ist mein Kind!«
»Geht jetzt und ruht Euch aus, Eure Frau und Eure Tochter benötigen Euch«, befahl die Ärztin sanft dem Kapitän. Sie nahmen beide nicht wahr, dass die Ärztin wieder zur Höflichkeitsform zurückgekehrt war. Loukas schaute noch einmal zu seiner schlafenden Frau, deren Unruhe ihm zeigte, dass sie trotz des Schlafs die Schmerzen verspürte, und zu seiner kleinen Tochter. Mit jedem Kind, dachte er plötzlich, beginnt die Welt neu. Wer das nicht begreift, ist einfach nur ein Schuft, der nichts verstanden hat, wert, in die Wüste gejagt zu werden.
Als er aus der Tür taumelte, erhob sich Basilius, der dort in einer Ecke auf dem Boden sitzend gewartet hatte. Niemand hatte Zeit gehabt, sich um den Gelehrten zu kümmern. Ein Lächeln flitzte angesichts des treuen Freundes über seine Lippen. »Deine Gebete haben genutzt, mein treuer Freund. Es ist eine Tochter, nein, es ist Anna«, sagte er und strahlte übers ganze Gesicht. Schritte klangen die Treppen hinauf. Einem Diener folgte ein Mönch. Basilius wandte sich um und wunderte sich. »Sagtest du nicht, du wolltest in die Hagia Sophia?«
»War ich ja auch, aber jetzt muss ich Loukas Notaras sprechen. Unter vier Augen!« Loukas wandte sich an Basilius und bat ihn, für ihn die Taufe in der Sophienkirche zu organisieren. Der Gelehrte nickte und ging, nicht aber ohne noch einmal mit einem erstaunten Blick den falschen Mönch zu mustern.
Nachdem sie allein waren, übergab der Türke einen Brief: »Ilyah Pascha schickt mich. Wo darf ich auf Antwort warten?« Loukas gab dem Diener, der sich in gebührender Entfernung hielt, Anweisungen, den Türken beim Gesinde im Parterre unterzubringen. Dann las er den Brief:
»Effendi, vergesst nicht unser Gespräch, erinnert Euch an meinen Herrn. Sein Vater hatte den Thron, den sein älterer Bruder raubte, für ihn vorgesehen. Aber er verstarb leider, bevor er Vorkehrungen treffen konnte. Verhelft einer armen Waise zu ihrem Recht.
Der, der mit Euch sprach.«
Am liebsten hätte er den Brief weggeworfen. Er wollte mit der gesamten Politik nichts mehr zu tun haben. Mit den Intrigen, der Eitelkeit, der Gier. Doch er nahm sich vor, mit seinem Vater darüber zu sprechen, wenn der Alte aus der Kirche zurück sein würde, später, viel später noch, denn jetzt zählte erst einmal Anna. Er schickte einen Diener zur Hagia Sophia, um Nikephoros Notaras mitzuteilen, dass er eine Enkelin hätte.
Am Abend, nahm er sich vor, wollte er einen Brief an Eirenes Vater, an den Despoten von Thessaloniki verfassen, um ihm die freudige Botschaft mitzuteilen. Doch jetzt benötigte er etwas Ruhe. Er bemerkte, dass seine rechte Hand unwillkürlich und unmerklich zitterte.
48
Großwardein, Ungarn
Der Hund ließ das Gefühl der Einsamkeit erst gar nicht aufkommen. Înger hielt sich dicht am Pferd seines Herrn. Selbst im Gebirge bewies er eine erstaunliche Ausdauer. Zuweilen glaubte Alexios, dass er nur weiterritt, weil ihn der Kuvasz dazu antrieb. Das Heimweh schien das Tier anzutreiben. Sie nächtigten in Herbergen oder bei Bauern. Manche Unterkunft machte einen zweifelhaften Eindruck auf ihn, doch der Hund lag zu seinen Füßen, so fühlte er sich sicher. Er hatte sich die Hose und das Wams eines mittleren Adligen zugelegt. Da er allein mit dem Kuvasz ohne Eskorte unterwegs war, erregte er kein Aufsehen. Einmal begegnete er Wegelagerern, aber der Kuvasz in Verbindung mit dem Schwert in seiner Hand ließ sie von ihrem Vorhaben Abstand nehmen.
So wie sich die Landschaft öffnete, als sie aus dem Gebirge kommend die Ebene des Banats erreichten, genoss auch sein Herz die Weite des Pannonischen Beckens. Rechts und links des staubigen Weges breiteten sich Felder mit Sonnenblumen, mit Hafer, mit Mais aus. Der Frühsommer hing bereits in der Luft. Schiefe Kirchen standen inmitten von winzigen Höfen und Katen. Kleine Kinder spielten auf der Straße, die größeren halfen den Eltern beim Versorgen des Viehs und bei den Feldarbeiten. Kam er an einem Sonntag durch ein Dorf, freute ihn der Anblick der bunten Röcke der Bäuerinnen, die sie zu weißen
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