Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Byzanz

Byzanz

Titel: Byzanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fleming
Vom Netzwerk:
als nähmen sie in der Schwärze des Raumes Gestalt an.
    »Es gibt bei uns eine Legende«, sagte Jakub, »nach der das Dasein der Menschheit auf dem Wirken von sechsunddreißig Gerechten, den ›Lamed waw‹ beruht, die alles Leid der Welt auf sich nehmen und dadurch den Erhalt der Menschheit vor Gott garantieren. Wenn einer dieser Gerechten zu Gott heimkehrt, stellt der Höchste die Uhr um fünf Minuten vor. Aber die Grausamkeit der Welt, die diese Menschen auf sich nehmen, hat dem einen oder anderen das Herz vereist, sodass Gott sie tausend Jahre und länger in seinen Fingern hält, um sie wieder aufzuwärmen. Bei manchen gelingt es allerdings nie. Demetrios ist ein besonderer Mensch. Vielleicht ist er einer dieser Gerechten. Wir müssen auf ihn aufpassen.« Der Jude lächelte, und der Kapitän konnte dieses Lächeln durch die Dunkelheit spüren. Seine Wärme leuchtete.
    Am anderen Morgen wurde Loukas in den Palast gerufen. Wieder spazierten sie zu dritt – Mustafa, Ilyah Pascha und Loukas – durch den zitrusduftenden Garten. Sie kamen überein, dass Mustafa und der Pascha am nächsten Tag mit dem Kapitän aufbrechen würden, um in Konstantinopel mit dem Kaiser persönlich zu verhandeln.
    »Wenn du erlaubst«, sagte Demetrios zum Abschied, »male ich für meine kleine Nichte ein Heiligenbildchen.«
    »Aber die Finger deiner rechten Hand …« Loukas wunderte sich, glaubte er doch, dass Demetrios die Malerei aufgegeben hatte. Wie wollte der Bruder das anstellen?
    Doch Demetrios lächelte, sicher und ohne Gram. »Was soll denn daran so schwer sein? Habe ich nicht auch gelernt, mit der linken Hand zu schreiben?«
    Loukas erinnerte sich an die Begegnung seiner Frau mit Dionysios, von der sie ihm erzählt hatte. Die lakonische Bemerkung des Mönchs, die sie damals empörte, dass Gott für jeden Menschen einen eigenen Weg, auch für den Ikonenmaler, zur Entfaltung seiner Kunst vorgesehen hatte, schien ihm nun zutiefst wahr zu sein. »Du kannst alles werden, was du möchtest, auch Mönch, auch Maler«, flüsterte Loukas, als sie sich zum Abschied umarmten, wobei er das letzte Wort, ohne es zu wollen, noch leiser und sehr unsicher ausgesprochen hatte.
    »Ich weiß!«, antwortete Demetrios laut mit freundlicher Sicherheit.
    Der Ältere staunte über die Stärke des Jüngeren, die er unter seiner Sanftmut verbarg. Ein Lamm, das zum Löwen werden konnte.

54
    Konstantinopel
    Über dem Bosporus ging die Sonne auf. Noch unverbraucht und voller Erwartung, was dieser Tag den Verteidigern bringen würde, stand sie am Himmel über Konstantinopel. Bereits im Morgengrauen hatten sich die Truppen leise und stumm versammelt, während vom feindlichen Lager die näselnde Stimme des Muezzins mit dem Singsang Allahu akbar. Ashadu an la ilaha illa ilah … herüberklang und ein paar frühe Vögel aufschreckte. Die Byzantiner verzichteten darauf, die Glocken zu läuten. Sollte der Muezzin sich doch in dem Glauben wiegen, dass er mit seiner Stimme die Ebene beherrschen würde und mit ihm alle Türken. Umso überraschender würde ihr Gegenschlag sein. Alles musste jedoch in größtmöglicher Stille vonstattengehen.
    Nach langer und sehr widersprüchlich verlaufender Beratung hatte der Kaiser am Ende doch auf Alexios und Hunyadi gehört, die vorgeschlagen hatten, den Befreiungsschlag als Überraschungsangriff zu wagen. Hinter den geschlossenen Toren stauten sich deshalb nun auf den Straßen der Stadt die Heerscharen: Kämpfer über Kämpfer, Reiter zu Pferde oder Söldner zu Fuß, ausgerüstet mit kurzen Schwertern und langen Lanzen, mit Morgenstern und Streitaxt, Ritter, Söldner, byzantinische Adlige, die sich entweder für Rhomäer oder für Griechen hielten, Italiener, ein paar Spanier, Bürger der Stadt. Hinter den Zinnen verbargen sich die Bogen- und Armbrustschützen. Die Pferde tänzelten, die Landsknechte rissen leise Witze, drosselten die Lautstärke ihres Lachens, spuckten aus und posierten zwischen den Wehrbauern und bewaffneten Bürgern wie große Raubtiere, ungeduldig und voller Gier, endlich ihrem Handwerk nachzugehen. Immer wieder tauchten zwischen ihnen Mönche und Priester mit Kreuzen, Ikonen und Weihrauchfässern in der Hand auf, um die Kämpfer zu segnen.
    Die Berufskrieger brauchten die Prahlerei wie die Luft zum Atmen, die Ungeduld, die Erwartung, mit aller Kraft zuzuschlagen und die Feinde zu töten, die Aussicht auf Beute und für einige auch auf Ruhm, um die Angst zu verdrängen, die sie lähmen würde, die Angst

Weitere Kostenlose Bücher