Byzanz
wirkte er wahrlich nicht wie der strahlende Held und Beschützer der Stadt. Nicht wie die muskulöse Figur Justinians, der hoch oben über der Stadt zu Pferde saß. Aber würde er von seiner Säule herabsteigen, wenn der lange Tag der letzten Schlacht käme? Wohl kaum. Und Nikolaus? Würde er nach seiner Rückkehr noch an Konstantinopel denken? Würde er noch an sie denken, wenn er weit weg im Lateinerland unterwegs war?
»Schau dir den Weltenkaiser Justinian an in seiner Pracht, in seiner Herrlichkeit, wie er im Bunde mit der Kirche, auf Augenhöhe mit der Heiligen Weisheit, über die Menschen herrscht. Wie vom unendlichen König des Universums die Harmonie über die Hierarchie, die Stufen der Welt hinabfließt und sich über alle Wesen ergießt, so soll auch die Regierung des Weltenkaisers Recht, Gerechtigkeit und Glauben für alle Menschen durchsetzen. Mehr bedarf es nicht.«
»Was aber ist Harmonie?«
»Der schöne Zusammenklang der einzelnen Leben, der Einklang aller, die Seinsweise eines glücklichen Daseins. Alle Menschen besitzen von Natur aus das Recht, ihr Leben zu erhalten und zu schützen, sie haben das Recht, sich zu ernähren, zu kleiden, zu bilden, Familien zu gründen, für ihre Nachkommen zu sorgen und ihr Eigentum zu schützen und, wenn es nicht auf Kosten Dritter geht, zu mehren. Das heißt Harmonie! So muss das ewige Reich beschaffen sein. Alles geht aus dem Einen hervor und kehrt in das Eine zurück. Wir alle sind voneinander abhängig, die Lateiner von den Byzantinern und umgekehrt. Nicht dem Papst kommt die Oberherrschaft zu, sondern Gott. Er ist das Eine. Ich habe die Archive durchwühlt. Weißt du, was ich gefunden habe?« Er hatte die Frage mit einer so großen Heftigkeit gestellt, dass Anna zurückschreckte. Sie fühlte seine Erregung. »Kennst du die größte Angst, die in der alten Kirche geherrscht hat?«
»Die vor der Verfolgung der Christen?« Er schüttelte den Kopf mit einem spitzbübischen Lachen. Anna fasste sich an die Stirn, als wolle sie sich für ihre Unbedachtsamkeit entschuldigen. Auf diese Frage konnte es nur eine Antwort geben. »Die vor dem Teufel?« Natürlich vor dem Teufel.
»Nein und nein und nein!«
»Nicht einmal vor dem Teufel. Was ist schlimmer als der Alte Feind?«
»Die Vermischung ist’s, die Vermischung von Weltlichem und Geistlichem. Weil die Kirche Weltliches und Geistliches vermengt, weltliche Macht ausübt, wo sie sich doch um das Seelenheil zu kümmern hat, blutet die Kirche moralisch und finanziell aus, obliegt nicht mehr ihren Aufgaben und befindet sich in Niedergang und Verfall. Deshalb haben sich Papst und Geistlichkeit um das Geistliche zu kümmern, während die weltliche Macht als Stellvertreter Gottes auf Erden der Kaiser auszuüben hat. Doch der Kaiser muss gewählt werden. Nur durch die Zustimmung und die freie Wahl der Bürger erhält der Kaiser die Legitimation zum Herrschen. Denn in der Wahl ist der Heilige Geist anwesend, oder besser, die Wahl muss so gestaltet sein, dass der Heilige Geist anwesend sein kann. Weil wir an die Trinität glauben, ist die Harmonie der Herrschaft möglich. Der Mensch kann den Kaiser wählen, weil Gott in Jesus Mensch geworden ist, weil der Mensch im Menschensohn erhöht wurde, weil Gott ihn zu sich gezogen hat. Aus dem Grund wird Gottes Wille als Heiliger Geist in der Wahl des Kaisers durch die Menschen anwesend sein. Im Islam gibt es keinen Gottessohn, folglich auch keine Erhöhung des Menschen zu Gott. Allah will Knechte, die gehorsam sind, also werden auch seine Sultane Tyrannen sein. Aber Gott verabscheut Knechte, er ist wie ein liebender Vater, der kluge und selbstständige Kinder haben will, die ihn in ihrer Klugheit und in ihrer Selbstständigkeit preisen, die ihm durch ihre Klugheit und durch ihre Selbstständigkeit dienen, denn nur so sind sie frei, und nur wenn sie frei sind, können sie sein Abbild sein. Gott ist frei, und wenn der Mensch nach seinem Bild geschaffen wurde, dann ist auch der Mensch frei, der zum Schutz seiner Freiheit den Kaiser wählt. Ich habe es mit eigenen Augen gelesen. Papst Anastasius nannte in einem Brief wörtlich den Kaiser vicarius Christi , Stellvertreter Christi. Höre wohl, der Papst den Kaiser und nicht umgekehrt.«
»Wenn wir überleben wollen, müssen wir uns am Haupt und an den Gliedern reformieren. Aber welcher Kaiser soll es sein? Der römische oder der byzantinische?«
»Keiner von beiden, sondern der Weltkaiser. Aber dafür benötigen wir zunächst eine
Weitere Kostenlose Bücher