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Byzanz

Byzanz

Titel: Byzanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fleming
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herum. Sie spürte, dass ihre Wangen zu glühen begannen. Das Mädchen suchte nach einem unverfänglichen Thema, das aber zugleich seiner würdig sein sollte, kein Geschwätz. Schwätzen konnte man mit den Dienstboten, mit Menschen aus dem Volk, nicht aber mit ihm. Ihre Aufmerksamkeit zog ein seltsamer Stein, der mitten auf dem Tisch lag, wie ein Magnet an. Er glänzte und schien durchsichtig zu sein. Sie nahm ihn in die Hand, als hielte sie etwas Zerbrechliches, zerbrechlich wie ihre Sicherheit ihm gegenüber.
    »Das habe ich heute Morgen bei einem Händler auf dem Markt beim Theodosius-Forum erworben«, erklärte er mit einem Anklang von Stolz in der Stimme.
    Die eine Seite hatte man konvex, die andere konkav geschliffen. Sie hielt ihn vor die Augen und wandte sich zu Nikolaus. So heftig erschrak sie, dass sie beinah den Stein fallen lassen hätte, denn das durch die Schläge arg in Mitleidenschaft gezogene Gesicht des Lateiners war plötzlich riesig und ganz dicht vor ihr. Es wölbte sich, als hätte jemand die Gesichtshaut aufgeblasen.
    »Und jetzt dreh den Beryll«, rief er ihr mit einem unvorsichtigen Schmunzeln zu, denn jede Miene, die er machte, bereitete Schmerzen.
    Sie folgte seiner Aufforderung und musste lachen. »Jetzt bist du geradezu winzig wie eine Maus und ganz weit weg.«
    »Ja, es ist ein Beryll, wenn du da hindurchschaust, siehst du Unsichtbares. Für unseren Verstand benötigten wir auch so einen Beryll.«
    »Aber wir haben ihn doch.« Gespannt schaut er sie an, als könnte ihm ausgerechnet dieses Mädchen die Welt erklären.
    »Sind nicht die Augen der Vernunft ein geistiger Beryll? Ich sage nicht des Verstandes, sondern der Vernunft.« Um das Gesagte zu bekräftigen, hob sie ihren langen Zeigefinger, als wollte sie ein riesiges Achtungszeichen in die Luft setzen. Wieder vergaß er, dass sie ein Mädchen war. »Wie man durch den Beryll das Größte und das Kleinste sieht, sollte man auch die Augen der Vernunft auf das Größte und auf das Kleinste richten. Mit ihr wollen wir die Einheit sehen, den Ursprung des Größten und des Kleinsten. Denn die Vernunft hat Gefallen daran, das Licht der Erkenntnis auf alles zu richten.« Anna machte sich einen Spaß daraus, mit dem Beryll vor Augen nach links und nach rechts zu schauen und ihn immer wieder umzudrehen, sodass er abwechselnd vergrößerte und verkleinerte. Sie lachte, sie kicherte nicht, sondern fand Vergnügen am Wechsel der Welten. »Die Vernunft, nicht der Verstand, ist der Wahrheitsgrund in uns, mit dem wir alles erkennen können. Der Verstand ist ein hausbackener Geselle, der Speichellecker, derjenige, der der öffentlichen Meinung und der Masse hinterherläuft. Keiner, auf den man bauen kann, wetterwendisch, der sich sicher gebende und damit falscheste Berater des Menschen. So lehrte es mich Bessarion. Wenn wir aber durch die Vernunft alles schauen können, erhebt sich die Frage, was ist das Alles ?«, sagte das Mädchen plötzlich ernst.
    »Das Alles ist das Eine , aus dem eben alles hervorgeht. Der Ursprung. Wollen wir das Alles erkennen, müssen wir zuerst das Eine verstehen, dasjenige, von dem das Alles herrührt. Denn Alles kommt vom Einen und geht zum Einen zurück!«
    »Dieses Eine ist doch dann Gott?«
    »Nenne es so.«
    »Von Bessarion habe ich gelernt, dass wir Gott nicht erkennen können, weil er über alle Erkenntnis ist. Mit unseren Begriffen machen wir ihn klein, weil wir ihn dadurch begrenzen. Wenn er der Gute ist, würden wir ihn einsperren in unsere armselige Vorstellung vom Guten.«
    »Richtig! Deshalb können wir eher sagen, was er nicht ist. Er ist eben nicht der Gute, sondern derjenige, der alle unsere Vorstellungen vom Guten übersteigt, der Über-Gute.«
    »Aber dann können wir das Eine nicht erkennen, weil wir Gott nicht erkennen können.«
    »Das ist das Problem, für das ich keine Lösung habe«, sagte Nikolaus betrübt.
    »Aber wenn du sie hättest, dann würde sich die Forderung Mose erfüllen: Seid wie Gott, denn wenn wir ihn erkennen …«
    »… machen wir uns die Erde untertan. Das ist die Weisheit, nach der ich suche, der Schlüssel, um alles zu erkennen. Wir sind Opfer unserer eigenen geistigen Missgeburten, wir haben Verstandesgestelle zwischen uns und der Wirklichkeit errichtet. Die Weisheit, die Gott Adam und Eva gegeben hat, die sie an Hermes Trismegistos weitergereicht haben, der wieder Pythagoras belehrte und von dem sie Platon erhielt, ist der Schlüssel zum Lauf der Welt und zum Glück der

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