Byzanz
Menschen, und sie ist verborgen.«
»Aber Platons Schriften besitzen wir doch!«, begehrte sie auf. Sollten denn gar keine Gewissheiten mehr gelten? Nikolaus von Kues wirkte gelassen und zufrieden, was sich in seinem verletzten Antlitz etwas komisch ausnahm. Das Veilchen in seinem Gesicht stand im buntesten Widerspruch zu seinem Pathos. Ein wenig selbstgefällig verschränkte er die Hände vor der Brust und wippte mit den Zehen. »Nun weißt du, welches Buch ich suche. Das Buch, in dem Platon die Geheime Lehre niedergelegt hat.«
»Warum aber ist sie geheim? Es müsste doch gut für uns alle sein, sie zu kennen, wenn sie der Quell des Glücks für alle Menschen ist.«
»Sowohl Platon in seinen Briefen als auch Dionysios Areopagita, der Schüler des Apostels Paulus, untersagten, die Geheimnisse denen zu verraten, die nicht über die Gabe der Vernunft verfügen. Viele besitzen Verstand, wenige aber Vernunft. Mit dem Verstand versteht und regelt man die sinnlichen, die anfassbaren, die Alltagsdinge, mit der Vernunft schaut man die Wahrheit. Der vernunftlose, den Sinnen verhaftete Mensch vermag die Wahrheit nicht zu schauen. Er sieht die Gegenstände, nicht aber die Ideen. Er hat Ansichten, aber kein Wissen, Meinungen, aber keine Kenntnisse. Er kann messen, aber er weiß nicht, was das Maß ist. Und weil er das nicht weiß, wird er mit der Weisheit maßlos umgehen und alles zerstören wie einer, der gehört hat, wie man ein Feuer entzündet, und es im Stroh in der Scheune entfacht, sodass ihm Stroh und Scheune verbrennen und vielleicht er mittendrin auch. So sah das auch Paulus. Er sagte: ›Und ich, liebe Brüder, konnte nicht zu euch reden wie zu geistlichen Menschen, sondern wie zu fleischlichen, wie zu unmündigen Kindern in Christus. Milch habe ich euch zu trinken gegeben und nicht feste Speise; denn ihr konntet sie noch nicht vertragen. Auch jetzt könnt ihr’s noch nicht, weil ihr noch fleischlich seid.‹«
»Was du suchst, ist der Schlüssel des Universums.«
»Nenne es so. Aber wir benötigen diese Weisheit, damit Christen nicht mehr Christen verfolgen, damit Juden, Muslime und Christen endlich begreifen, dass sie demselben Gott dienen, dass sie alle seine Kinder sind und sich wie Brüder und Schwestern nicht an die Kehle gehen dürfen!«
»Dann wäre der Heilige Krieg, wie übrigens jeder Krieg, Gotteslästerung?«
»Ja, aber solange wir die Weisheit nicht gefunden haben, den Religionsfrieden nicht verwirklicht haben, müssen wir unseren Glauben wie unsere Existenz, was dasselbe ist, verteidigen, so lange werden wir wohl oder übel Kreuzzüge führen müssen.«
»Wenn wir im Frieden und im Glück leben wollen, müssen wir also diese Weisheit finden?«
»Ja.« Als er dieses einfache, jedoch entschlossene Ja sagte, war er schöner als je zuvor. Ein sanftes Licht erhellte von innen heraus seine Gesichtszüge, sodass sie eine gewisse Durchlässigkeit bekamen. Anna glaubte sogar, dass sie sein Antlitz noch im Dunkeln sehen würde, so sehr leuchtete es aus seinem Herzen, seinem Geist. Dieses Leuchten kam nicht von Gott, auch nicht vom Teufel, es verdankte seine Existenz keiner Technik und auch keiner Absicht, dazu erstrahlte es zu hell und zu sanft und zu echt. Weder zeigte sich in ihm zugleich, wie es zumeist geschieht, das verborgene Schillern der Eitelkeit noch das Schimmern der Berechnung, auch nicht das Flittern der List noch die Kunst der Verstellung. Ein Hintergedanke hätte ein Teil des Leuchtens verstellt und somit für einen vielleicht kaum feststellbaren Schatten gesorgt. Dieses Leuchten bestand einfach nur aus Denken, aus dem Denken eines Menschen, das so selten und so kostbar geworden war in dieser Welt aus Geschwätz.
Jetzt, wo sie gedanklich eine kleine Verfolgungsjagd durch die Welt begonnen hatten, hielt es die beiden nicht mehr in der Zelle, die ihnen zu eng wurde. Für die Bibliothek war es nicht nur zu spät, es fehlte ihnen auch die Konzentration für das andere, wo sie jetzt doch ganz bei sich waren. Nicht ihre Körper – das lag außerhalb ihrer Vorstellung –, ihre Seelen hatten sich vereint, es waren die Liebkosungen des Geistes, die man Gedanken nannte, die sie austauschten. Also spazierten sie auf Annas Vorschlag, die vier bewaffneten Diener in angemessenem Abstand hinter ihnen, zur St.-Barbara-Spitze, denn nur die Weite des Meeres konnte dem abenteuerlichen Denken einigermaßen Raum bieten, das Lager ihres Begehrens sein. Auf dem Weg durchquerten sie die engen Gassen des
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