Byzanz
umgekehrten Perspektive. Normalerweise laufen die Linien im Unendlichen zusammen, das bedeutet, dass alles, was im Vordergrund ist, größer ist als das, was im Hintergrund ist. Sollte also die Bibliothek wie eine Ikone geordnet sein, dann finde die Ikone. Entweder hat sie der Bibliothekar in seiner Jugend gemalt, oder sie ist von zentraler Bedeutung für das Kloster. Vorausgesetzt natürlich …«
Es klopfte an der Tür. Ein Diener bat Anna, sogleich ihren Vater in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen. Sie wunderte sich, dass er sie so spät noch zu sprechen wünschte. Dann konnte es nur etwas Wichtiges sein. Ihr schwante nichts Gutes. Mit ihrer Ahnung sollte sie recht behalten. Beim Betreten des Arbeitszimmers fiel ihr sofort die eisige Atmosphäre auf, der kalte Blick des Vaters und die verkniffenen Lippen der Mutter.
»Setz dich«, befahl Loukas knapp. Sie hatte sofort das Gefühl eines Tribunals. Vater und Mutter saßen ihr gegenüber.
»Was treibst du eigentlich im Kloster? Und ich will keine Lügen hören!«, begann er mit Grollen in der Stimme.
»Du weißt, dass ich nicht lüge.« Weder Loukas noch Eirene reagierten, sondern sie warteten. »Ich werde in Philosophie unterrichtet.«
»Von wem?«
»Das wisst ihr doch.«
»Wissen wir das wirklich?«, hakte Eirene nach.
»Von Bessarion.«
Die Schläfen des Admirals spannten sich an. »Ist das alles? Mehr nicht?«
»Es gehört zum Unterricht, in den Beständen der Bibliothek zu suchen.«
»Mit wem suchst du denn?«
»Mit dem Herrn Nikolaus«, versuchte sie so normal wie möglich zu klingen. Es gelang ihr nur schlecht, wie sie selbst fand. Es kostete ihre ganze Selbstbeherrschung, nicht zu erröten.
»Hatten wir dir das erlaubt?«
»Nein, aber …« Sie biss sich auf die Zunge, denn sie wollte Bessarion nicht mit hineinziehen. »Ich dachte mir nichts dabei. Herr Nikolaus ist ein Kenner der Philosophie und ein versierter Bücherjäger. Er sagt Dinge, die dir gefallen würden, so zum Beispiel, dass dem Papst nicht der Primat zukommt, dass der Kaiser der Stellvertreter Christi auf Erden ist und nicht der Papst, dass die Konstantinische Schenkung eine Fälschung …«
»So, sagt er das alles?«, fuhr Loukas sie an. »Mich interessiert aber mehr, was er tut. Ein Mann meines Alters ist mit meiner Tochter allein«, brüllte er los.
»Loukas!«, ermahnte Eirene ihn.
»Wir waren nicht allein, Papa!«, hielt das Mädchen tapfer dagegen, die der Ausbruch ihres geliebten Vaters einschüchterte.
»Stimmt, umarmt habt ihr euch in aller Öffentlichkeit auf der St.-Barbara-Spitze!« der Admiral kochte vor Wut. Anna sank der Mut. Er wusste alles. Sie hätte vorsichtiger sein müssen, aber dann hätte sie doch vorher wissen müssen, was geschieht, dann hätte sie doch ihren Vater betrügen und Nikolaus verführen wollen wie eine Frau den Mann! Aber das war es ja nicht, was zwischen ihr und Nikolaus bestand. Wie sollte sie denn etwas verbergen, wovon sie nicht einmal ahnte, dass es geschehen würde! Dabei verstand sie nicht einmal selbst, was geschehen war. Aus dem Munde ihres Vaters klang es so gewöhnlich, wie ein Verbrechen. Sie hätten sich umarmt, sich hinter seinem Rücken getroffen, sie, das junge Mädchen, und ein Mann seines Alters. Aber so war es nicht, so war es ganz und gar nicht! Aber wie war es dann? Sie hatten über Philosophie gesprochen, über das Kaisertum, über die Reform als einzigen Weg, Konstantinopel vor den Türken zu retten, sie hatte ihm Büchertitel und Passagen aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt. So war es, mehr aber nicht. Nicht mehr? Doch, bei alldem hatte ihr Herz höher geschlagen, fühlte sie sich sicher und wohl in seiner Gegenwart. Aber das hatte doch nichts zu bedeuten, nichts Schlechtes jedenfalls.
»Du hast uns hintergangen, unser Vertrauen missbraucht«, sagte ihre Mutter kühl.
»Aber Mama, glaubst du das wirklich?«
»Keine Komödie, Anna, bitte. Mach es nicht noch schlimmer.« Aus der Stimme ihres Vaters klang tiefe Enttäuschung. Und das traf sie stärker, als wenn er gebrüllt hätte. Sie fühlte sich hilflos vor dem Bild, das sich ihre Eltern machten, denn sie hatte das Gefühl, sie nicht mehr zu erreichen. Sie konnte sagen, was sie wollte, ihre Eltern hatten sich ihre Meinung gebildet. Mit nichts hätte Anna sie umstimmen können. Die Sehnsucht, wieder Kind zu sein, überkam sie. Da war alles so einfach und so überschaubar. Ihr Vater liebte sie und sie ihn, kein Geheimnis bestand zwischen ihnen, aber
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