Byzanz
riesigen Ameisenbaus, der Konstantinopel auch war, und die Ruinen imperialer Größe. In dieser Stadt hauste die Gegenwart zur Untermiete bei der Vergangenheit. Zweistöckige Häuser reihten sich aneinander, bis sie einem ovalen Forum Platz machten. Kolonnadengänge umringten das Forum, das sie durch ein hohes Tor betraten. In der Mitte stand auf einer hohen Säule eine Figur mit Speer. Ins Gespräch vertieft, nahmen sie weder den Platz noch die Säule wahr, weder das freie Feld, das sie überquerten, noch die engen, muffigen Gassen, die sie durchschritten, auch nicht den alten Palast, den sie rechts liegen ließen. Nicht einmal die aufdringlichen Schreie der Möwen drangen in ihr Bewusstsein, so sehr waren sie in die Worte des anderen vertieft. Die Landspitze empfing sie mit einer frischen Brise, der es nicht völlig gelang, den Duft des wilden Wacholders, den sie auftrieb, zu zerstreuen.
Deshalb, und weil sie wirklich von Seeräubern abstammten, liebten die Notaras diesen freien Ort, an dem die Meeresluft gegen den Gestank der Stadt anrannte, immer wieder von Neuem. Von hier aus konnte man in das Goldene Horn schauen, hinüber zur der Genuesenstadt Galata oder geradeaus in den Bosporus, der irgendwann ins Schwarze Meer mündete. Wenn es eine Definition für Freiheit gab, dann lautete sie, an diesem Ort zu stehen. Im Osten allerdings drohte bereits die anatolische Landmasse, die Heerscharen osmanischer Krieger gebar. Sie sogen die frische Luft ein, als würde jeder Atemzug ihr Leben um zehn Jahre verlängern. Stumm hatten sie diesen Anblick genossen, bevor sie sich umwandten und schweigend in die Stadt blickten. Linkerhand ragten die Überreste des alten Kaiserpalastes in den Himmel und lag der Leib des Hippodroms vertäut wie ein trunkenes Schiff im Landmeer. Aus alldem und über dem allen erhob sich die Kuppel der Hagia Sophia, die im Abendlicht wie Gold leuchtete, dem eine Spur Blut beigemischt war.
»Ist das die Ewigkeit?«, fragte er.
»Das Gold ist die Ewigkeit, das Blut die Vergänglichkeit. Aber daraus besteht die Weisheit, aus sich immer wieder erneuernder Vergänglichkeit bis in alle Ewigkeit, so wie das Gold vom Schein des Blutes umgeben ist.«
Nikolaus sah sie mit einem langen Blick an. Das Mädchen hatte etwas gesagt, von dem sie zuvor nichts wusste und das sie auch jetzt noch nicht ganz verstand, verführt vom Sehen. Auch der Mann verstand noch nicht vollkommen den Sinn ihrer Worte, spürte jedoch mit jeder Faser seines Geistes, dass in diesem Satz die Lösung seiner Frage lag, wie das Unendliche zu denken sei. Anna errötete, weil sie fürchtete, ihn mit Worten zu betrügen, die sie selbst nicht verstand, aus Eitelkeit klüger zu tun, als sie tatsächlich war. Wer war sie denn? Doch nur ein sechzehnjähriges Mädchen. Verlegen lächelnd wies sie mit ihrem rechten Zeigefinger auf die Kuppel der Hagia Eirene. »Das ist die jüngere Schwester der Heiligen Weisheit, die Hagia Eirene, was auf Lateinisch die Heilige Wahrheit bedeutet.«
»Die Wahrheit als jüngere Schwester der Weisheit. Die Wahrheit kam nach der Weisheit, und sie hatten denselben Vater. Ja, so ist es recht«, stimmte er ihr feierlich zu.
»Und dort, schau!« Nicht allzu weit entfernt von der Hagia Sophia, südwestlich von ihr, saß Kaiser Justinian auf seinem Schlachtross, durch eine Säule auf annähernd gleiche Höhe mit der Kuppel der Sophienkirche gehoben. In der linken Hand hielt er die Welt als Erdkugel, die rechte erhob er, ganz Weltenherrscher, nach Osten.
Die Augen des Legaten leuchteten beim Anblick dieser Figur. »Den Osten wird er unterwerfen«, sagte er mit Gewissheit.
»Für mich sieht es eher so aus, als versuche er noch zu bannen, was da vom Osten auf uns zukommt. Am Ende werden uns wohl nur noch die Bildnisse verteidigen.« Ein bitteres Lachen entrang sich ihrer Kehle. »Und nicht nur vom Osten, die Türken stehen auch schon im Westen. Konstantinopel ist die letzte christliche Insel im Meer der Heiden.« Der Körper des Mädchens bebte. Es war ihr nie so bewusst geworden wie eben jetzt, in welcher Gefahr sie schwebten. »Werden wir diese Insel verteidigen können, Nikolaus, wird sie den Ansturm der Muslime überleben?«
»Ich werde alles dafür tun. Solange ich lebe, werde ich meine ganz Kraft dafür einsetzen, Konstantinopel zu verteidigen.« Mitleid lag in ihrem Blick, als sie mit ihren Augen über die Wunden in seinem Gesicht fuhr. Verwundet, gerupft, mit einem Gesicht, das in Blau und Grün und Gelb leuchtete,
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