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Byzanz

Byzanz

Titel: Byzanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fleming
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Und wisst Ihr, warum das so ist? Weil das Vorurteil weder unseren Verstand anstrengt noch uns infrage stellt. Es fordert nichts von uns, sondern alles von den anderen. Die Menschen müssen sich von den Vorurteilen befreien, wenn sie wirklich urteilen wollen. Erst dann sind sie wirklich in der Lage, zu wählen und Entscheidungen zu treffen. Dort, wo die Menschen am inbrünstigsten ihre Meinung herausposaunen, plappern sie eigentlich nur nach. Nein, dieser Mann denkt nicht nach. Er hat längst seine Entscheidung getroffen, und zwar gegen sich«, sagte Nikolaus leise, mit einer kaum verhohlenen Verzweiflung.

28
    Notaras-Palast, Konstantinopel
    Anna hatte geweint, sie hatte getobt, sie hatte geflucht, sie hatte sich ihrer Verzweiflung ergeben. Ihre Mutter verstand sie nicht, ihr Vater auch nicht. Sollte sie denn ein ereignisloses Leben in den überschaubaren Zirkeln des Palastes zubringen? Wäre es nicht besser, mit Nikolaus zu fliehen und die Welt kennenzulernen? Würde sich ihr diese Chance jemals wieder bieten? Würde sie jemals wieder einen Mann wie ihn treffen? Sie musste ihn noch einmal sehen, wenigstens die Jagd nach Büchern abschließen. Schließlich schwebte ihr eine Idee davon vor, wie der kleinwüchsige Mönch die Bibliothek geordnet hatte. Außerdem rebellierte ihr ganzer Widerspruchsgeist gegen diese Behandlung, denn sie war sich keiner Schuld bewusst. Dass ihr ein Fehler unterlaufen war, würde sie sich noch eingestehen, aber Schuld, nein, Schuld hatte sie nicht auf sich geladen. Vorsichtig öffnete sie die leicht knarrende Tür, schlich durch das Zimmer von Theodora, das völlig von ihren Puppen beherrscht wurde. Zum Glück spielte ihre kleine Schwester im Garten. Bevor sie auf den Gang trat, lugte sie vorsichtig um die Ecke, fand den Flur menschenleer, eilte zur Treppe, lief leichtfüßig die Stufen hinab, schon war sie am Portal. Dem Pförtner befahl sie, die Palasttür zu öffnen, und schon umgab sie die Herbstsonne mit ihren noch wärmenden Strahlen. Nur jetzt nicht trödeln, ermahnte sie sich. In ihrem Damastkleid war sie zu gut gekleidet, um allein unterwegs zu sein. Sie rannte über den Platz, tauchte in die Gasse und scherte sich nicht um die Leute, die ihr neugierig oder verwundert nachsahen.
    Kurz vor dem Basiliuskloster entdeckte sie ihren Vater. Geistesgegenwärtig lief sie in die Gasse, die nach links abbog und die wohl in Richtung Hafen führte. Sie wollte warten, bis er vorübergegangen war, und dann ihren Weg fortsetzen. Anna ging hinter einem Mauervorsprung in Deckung und beobachtete die Straße. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass auch sie beobachtet wurde. Ein Mann, dessen Grinsen nichts Gutes verriet, kam auf sie zu. Sie ging rasch weiter, doch er folgte ihr. Schließlich stand sie vor einer Mauer. Das Mädchen befand sich in einer Sackgasse. Während Anna sich umdrehte, suchte sie jemanden, der ihr helfen konnte. Aber die Straße war fast menschenleer; nur eine alte Frau schaute sie träge an.
    »Suchst du die Nutten? Die schlafen noch. Vertreiben wir uns ein bisschen die Zeit«, sagte der muskulöse Mann mit der dreckigen Stimme.
    »Aus dem Weg«, fauchte Anna ihn an. Inzwischen stand der Muskulöse mit seinen Wollhosen und dem Hemd aus grauem Leinen vor ihr. Der Gestank seines Atems nach Vergorenem und Angefaultem nahm ihr die Luft. Er entblößte eine Zahnlücke mitten im Mund. »Hab dich nicht so. Wenn du gut bist oder anstellig, darfst du sogar für mich arbeiten.« Viel wusste Anna nicht von der Welt, aber immerhin, dass diese Kreatur sie aus Angst wahrscheinlich töten würde, wenn sie ihren Namen verriet, weil er zu Recht die Rache ihres Vaters befürchtete. In seinem Gürtel entdeckte sie ein Messer. Jetzt half nur noch Klugheit. Sie ging rückwärts und tat, als ob sie sich ängstigte.
    »Ruhig, ganz ruhig. Stephanos wird dich schon gut zureiten. Stephanos hat Erfahrung. Hast Glück, dass du an mich gerätst, Kleine.« Anna tat, als hörte sie ihm widerstrebend, aber immer zutraulicher zu, und blieb schließlich stehen. Er grinste, wie er meinte verführerisch, im unbegrenzten Vertrauen auf seine Unwiderstehlichkeit. Der Zuhälter streckte die Hand nach ihr aus, berührte ihren Hals. Sie ließ es geschehen und verzog keine Miene.
    »Na siehst du, ist doch gar nicht so schlimm, brav, Mädchen, brav.« Sie ging auf ihn zu und schmiegte sich an, dabei erinnerte sie sich daran, was ihr Vater ihr einmal beigebracht hatte. Mit ganzer Kraft stieß sie mit dem Knie, das sie

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