Cabal - Clive Barker.doc
zum Friedhofstor. Als er über den staubigen Boden schritt, begriff er sehr schnell, was Pettine mit Termitenbau gemeint hatte. Unter der Erde ging etwas vor sich. Er schien sogar Stimmen hören zu können, was Gedanken ans Lebendig-begraben-Werden in ihm wachrief. Das hatte er einmal gesehen; oder die Folgen davon. Hatte selbst mitgeholfen, eine Frau auszugraben, die man unter der Erde schreien gehört hatte. Sie hatte allen Grund dazu gehabt: Sie hatte einem Kind das Leben geschenkt und war in ihrem Sarg gestorben. Das Kind, eine Mißgeburt, hatte überlebt. War wahrscheinlich ins Irrenhaus gekommen. Oder möglicherweise hierher, unter die Erde, zu den anderen Wichsern.
Wenn ja, konnte es jetzt die Minuten, die es noch zu leben hatte, an den sechs Fingern seiner Hand abzählen. Sobald sie die Köpfe zeigten, würde Eigerman sie mit Kugeln wieder dorthin zurückjagen, wo sie hinge -
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hörten. Sollten sie nur kommen. Er hatte keine Angst.
Sollten nur kommen. Sollten getrost versuchen, hinaus-zugelangen.
Seine Stiefel warteten.
3
Decker sah zu, wie sich die Gruppe organisierte, bis es ihn ein wenig unbehaglich machte. Dann zog er sich ein Stück auf den Hügel zurück. Er verabscheute es, anderen Männern bei der Arbeit zuzusehen. Er fühlte sich so ohnmächtig dabei. Er sehnte sich danach, ihnen seine Macht zu zeigen. Und das war immer ein gefährlicher Drang. Die einzigen Augen, die seinen Mord-Steifen sehen durften, waren die, die gleich glasig werden würden, und selbst die mußte er vernichten, weil er Angst hatte, sie könnten verraten, was sie gesehen hatten.
Er kehrte dem Friedhof den Rücken zu und lenkte sich mit Plänen für die Zukunft ab. Wenn Boones Verfahren vorbei war, würde es ihm freistehen, die Arbeit der Maske erneut aufzunehmen. Darauf freute er sich leidenschaft-lich. Von jetzt an würde er weitere Strecken zurücklegen.
Würde in Manitoba und Saskatchewan morden; vielleicht sogar drüben in Vancouver. Wenn er nur daran dachte, wurde ihm heiß vor Lust. In der Aktentasche, die er bei sich trug, konnte er Knopfauge fast durch seine silbernen Zähne seufzen hören.
»Pssst«, sagte er zu der Maske.
»Was denn?«
Decker drehte sich um. Pettine stand einen Meter von ihm entfernt.
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»Haben Sie etwas gesagt?« wollte der Polizist wissen.
Er wird zur Mauer gehen, sagte die Maske.
»Ja«, antwortete Decker.
»Ich habe nichts gehört.«
»Nur Selbstgespräche.«
Pettine zuckte die Achseln.
»Befehl vom Chef. Er sagt, wir werden gleich reingehen. Möchten Sie mitkommen?«
»Ich bin bereit«, sagte die Maske.
»Nein«, sagte Decker.
»Kann ich Ihnen nicht verübeln. Sie sind nur ein See-lendoktor?«
»Ja. Warum?«
»Ich glaube, wir werden über kurz oder lang Ärzte brauchen. Sie werden nicht kampflos aufgeben.«
»Da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich kann nicht einmal Blut sehen.«
Aus der Aktentasche drang ein so lautes Lachen, daß Decker sicher war, Pettine müßte es gehört haben. Aber nein.
»Dann sollten Sie sich besser fernhalten«, sagte er und wandte sich ab, um wieder zum Ort des Geschehens zu gehen.
Decker nahm die Tasche in die Arme und zog die Aktentasche an die Brust. Er konnte hören, wie drinnen der Reißverschluß auf und zu ging, auf und zu.
»Verdammt, sei still«, flüsterte er.
»Sperr mich nicht ein«, heulte die Maske. »Nicht aus-gerechnet heute nacht. Wenn du kein Blut sehen kannst, dann laß mich für dich sehen.«
»Ich kann nicht.«
»Das bist du mir schuldig«, sagte sie. »Du hast es mir in Midian verweigert, erinnerst du dich?«
»Ich hatte keine andere Wahl.«
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»Jetzt hast du eine. Du kannst mich herauslassen. Du weißt, es würde dir gefallen.«
»Man würde mich sehen.«
»Dann bald.«
Decker antwortete nicht.
»Bald!« schrie die Maske.
»Psst.«
»Sag es doch.«
»...bitte...«
»Sag es.«
»Ja. Bald.«
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XXI
Das Verlangen
l
Zwei Männer waren auf Posten im Hauptquartier zurückgelassen worden, um den Gefangenen in Zelle fünf zu bewachen. Eigerman hatte ihnen strenge Anweisungen gegeben. Einerlei, was sie von drinnen hörten, sie durften unter gar keinen Umständen die Zellentür aufschließen.
Und niemand von außen – Richter, Arzt oder der liebe Gott höchstpersönlich – durfte zu dem Gefangenen gelassen werden. Um diese Befehle zu untermauern, waren den Polizisten Cormack und Koestenbaum die Schlüssel zur Waffenkammer gegeben und Erlaubnis erteilt worden, zu extremen Schutzmaßnahmen zu
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