Cadence Jones ermittelt - Davidson, M: Cadence Jones ermittelt
fügte ich hastig hinzu, wobei ich jeden Blick auf das scheußliche Ding vermied.
George lebte sichtlich auf und strich stolz über den scheußlichen Stoffstreifen. »Findest du?«
»Einfach, ähm, prächtig. Wirklich unheimlich … richtig schön.«
George hatte heute Geburtstag. Er wurde dreißig. Altern bereitete ihm Stress. Seine Eitelkeit wurde nur noch von seinen scheußlichen Krawatten übertroffen.
»Lass mich erst diesen Müll aus dem Weg schaffen, dann gehen wir zu Culver’s und feiern.«
»Culver’s?«
»Stracciatella«, schwärmte ich ihm vor. »Schokolade. Nuss. Heiße Karamellsauce. Ein Mountain Dew mit jeder Menge Eis. Zwei Mountain Dews.«
George strahlte. »Versprochen?«
»Klar! Aber später. Erst muss ich dies hier noch erledigen.«
»Okay.« Er sprang auf. »Okay! Also, bis später. Okay.« Er rauschte davon, auf dem Weg zu jedwedem möglichen Schicksal, das regierungseigene Soziopathen an ihrem Geburtstag erwarten mochte.
Ich machte mich wieder an die Arbeit, wobei mir auffiel, dass ich mich fast eine Stunde lang mit anderen Menschen beschäftigt hatte, statt wirklich zu arbeiten. Und wie ich glaube auch schon gesagt zu haben, bereitete mir die Vorstellung, mich durch etliche Papierstapel quälen zu müssen, ein höheres Maß an Verbitterung.
Ich überflog die Akte so schnell wie möglich, ohne dabei Infos zu überspringen. Lange starrte ich die Tatortfotos an und las mich in das Leben der Opfer ein.
Die Opfer. Ich war mir sicher, dass genau hier die Verbindung liegen musste, die nur darauf wartete, dass sie von jemandem (mir!) entdeckt wurde. Irgendetwas zog Dreierpack zu diesen bestimmten Menschen hin.
Er hatte Touristen umgebracht und Einheimische. Er hatte Männer getötet und Frauen. Afroamerikaner und Weiße. Mannequins und Steueranwälte. Kellnerinnen und Ärzte. Das Einzige – das Eine – was die Opfer gemeinsam hatten, und was vom ersten Tatort an offenkundig gewesen war, war die Tatsache, dass es immer drei Opfer sein mussten, arrangiert in einem seltsamen Tableau, das uns verblüffte, für den Täter aber eine tiefere Bedeutung haben musste. Und die Opfer waren ohne Ausnahme alle auf die gleiche Weise getötet worden.
Auf eine zärtliche Weise, wenn so etwas überhaupt möglich ist. Stiche in den Brustkorb – und gezielt ins Herz.
Keine Abwehrverletzungen.
Nicht einmal ein Kratzer. Dreierpack setzte seine Opfer nicht unter Drogen und er machte sie auch nicht betrunken. Sondern er beruhigte sie … und sie wehrten sich nicht gegen das Messer.
Keiner von ihnen hatte sich gewehrt, keiner hatte um sein Leben gekämpft. Diese Besonderheit war mir vor allem anderen aufgefallen. Shiro auch. Wir wussten, dass Menschen sich wehren, dass sie um ihr Leben kämpfen. Es ist doch schrecklich und gleichzeitig ein Wunder, wie sehr der Mensch am Leben hängt. Wie viel Schmerz er in Kauf zu nehmen bereit ist, nur um am Leben zu bleiben.
Ja. Schrecklich. Und ein Wunder.
Ein Gemälde hingegen kämpfte nicht und eine Skulptur kämpfte ebenso wenig. Sie ließen sich einfach bearbeiten.
Konnte Tracy Carr recht haben? Arbeitete der Mörder an dem, was er für seine Kunst hielt? Konnte er aufhören, wenn er es wollte? So wie es meiner Freundin Cathie auch möglich war, ihren Küchenboden nicht mit der Zahnbürste zu schrubben? Oder war es ihm eher nicht möglich – so wie George, der niemals seinem Spiegelbild entrinnen würde, weder im wirklichen noch im übertragenen Sinne?
Genau so war es nämlich: Dreierpack konnte nicht aufhören. Er wollte auch nicht aufhören. Dieser ganze Bitte-haltet-mich-auf-bevor-ich-wieder-töte -Schwachsinn (»Im tiefsten Innern will ich aufgehalten werden, deshalb habe ich am letzten Tatort meinen Fingerabdruck hinterlassen«) ist eine der falschesten Mythen der Polizeiarbeit.
Denn Serienmörder wollen nie aufhören zu töten. Wenn sie es nämlich wollten, würden sie es einfach tun. Dreierpack aber würde nicht aufhören. Und warum nicht? Weil er, wenn er seine Kunst kreierte, wie Leonardo da Vinci, Picasso und Gott war, zusammengefaltet zu einem großen, göttlich talentierten Sandwich. Dieses Allmachtsgefühl würde er nie, niemals aufgeben wollen.
Was mich zu der Frage brachte, was ich eigentlich nicht aufgeben wollte?
******* MMPI: Minnesota Multiphasic Personality Inventory. In den 1930er-Jahren entwickelter Test mit 567 kurzen Feststellungen (»Items«). Ziel war, ein objektives Hilfsmittel zur Diagnose psychischer Störungen zu konstruieren.
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