Cäsar Birotteau (German Edition)
die kleinen Mißhelligkeiten in der Fabrik.
»Liebe Frau«, sagte er, als sich die Kommis entfernt hatten, »der heutige Tag ist zweifellos einer der wichtigsten unseres Lebens. Die Nüsse sind gekauft, die hydraulische Presse steht für morgen bereit, das Geschäft mit den Baustellen ist abgeschlossen ... Hier, schließ doch mal den Scheck in den Geldschrank! – Der Umbau ist entschieden, unsere Wohnung wird vergrößert! Mein Gott, da habe ich heute im ,Holländischen Hof‘ einen sonderbaren Kauz kennengelernt!«
Er erzählte von Molineux. Seine Frau unterbrach ihn mitten in einer Tirade:
»Ich konstatiere, daß du Zweihunderttausend Francs Schulden machst!«
»Ach ja!« Birotteau begann, eine kleine Komödie zu spielen. »Du lieber Gott, wie sollen wir die bezahlen?« sagte er anscheinend tiefbesorgt. »Auf die Baustellen um die Madeleine, wo dermaleinst das schönste Viertel der Stadt erstehen soll, ist zunächst so gut wie gar nicht zu rechnen.«
»Dermaleinst, jawohl, Cäsar!«
»Ach!« fuhr er fort, »meine drei Achtteile bringen mir erst in sechs Jahren eine Million ein. Von was soll ich die zweihunderttausend Francs bezahlen?«
Er zog eine bei Frau Madou eingesteckte, sorgsam aufbewahrte Nuß aus der Tasche.
»Hiermit bezahlen wir sie!« rief er aus.
Er hielt die Nuß hoch. Seine Frau schwieg, aber Cäsarine sagte, indem sie ihrem Vater den Kaffee reichte, in schelmischem Tone:
»Du machst wohl Spaß!«
Birotteau hatte – ebenso wie die Kommis – zu seinem Erstaunen gewisse Blicke beobachtet, die Popinot Cäsarine bei Tische zuwarf. Er wollte klar sehen.
»Sieh, Kindchen«, sagte er, »diese Nuß ist die Ursache einer Umwälzung in unserem Hause. Heute abend wird einer weniger unter unserm Dache schlafen!«
Cäsarine blickte ihren Vater an, als wollte sie sagen: Was geht mich das an?
»Popinot geht nämlich!«
Cäsar war ein miserabler Beobachter, dennoch erriet er in seiner väterlichen Zärtlichkeit den Wirrwarr der Gefühle, der im Herzen seiner Tochter entstand und sich dadurch offenbarte, daß es auf ihrer Stirn und auf ihren Wangen gleich roten Rosen zu glühen begann, während sie die leuchtenden Augen niederschlug. Nun glaubte er, Cäsarine und Popinot hätten sich bereits ausgesprochen. Darin irrte er sich jedoch; die beiden Kinder verstanden einander, wie alle heimlich Liebenden, ohne sich je ein Wort gesagt zu haben.
Es gibt Moralisten, die halten die Liebe für die unfreiwilligste, uneigennützigste, am wenigsten berechnende Leidenschaft nächst der Mutterliebe. Diese Meinung ist grundfalsch. Wenn die meisten Menschen auch die Gründe nicht kennen, warum sie lieben, so ist deshalb doch jede körperliche oder seelische Zuneigung nicht weniger auf Berechnungen des Verstandes, der Gefühle oder der Brutalität begründet. Die Liebe ist eine wesentlich egoistische Regung. Und Egoismus ist Berechnung. Daher muß es einem logischen Kopfe zunächst unwahrscheinlich oder höchst sonderbar vorkommen, wenn ein schönes Mädchen wie Cäsarine seine Liebe einem rothaarigen hinkenden Menschen schenkt. Trotzdem steht dieses Phänomen mit der Mathematik der bürgerlichen Gefühlswelt durchaus im Einklang. Sobald man hinter das Geheimnis einmal gekommen ist, wundert man sich nicht mehr über die erstaunlich vielen Ehen zwischen schönen Frauen und körperlich unscheinbaren oder selbst häßlichen Männern.
Einem Manne, der mit irgendeinem körperlichen Gebrechen, gleichviel welcher Art, behaftet ist, stehen nur zwei Wege zur Eroberung schöner Frauen offen. Er muß sich so geben, daß ihn die Frauen entweder grenzenlos fürchten oder außergewöhnlich liebenswürdig und gütig finden. Die tausend Spielarten zwischen diesen beiden Extremen kommen für ihn nicht in Betracht. Im ersten Falle muß er Genie, Talent oder Macht haben. Die Frauen empfinden Angst vor dem Bösen, Verehrung vor dem Genie, Furcht vor zu viel Geist. Im zweiten Fall erringt er die weibliche Gunst, indem er sich der Tyrannei der Frau unterwirft oder sie gar bewundert und sich als größerer Liebeskünstler erweist denn der Mann von untadeligem Körper.
Anselm Popinot war ein Erziehungsprodukt des Ragonschen Ehepaares, dieser Idealbürgersleute von Anno dazumal. Ein weiteres Vorbild war ihm sein Onkel, der Richter Popinot, mit seiner Sittenstrenge und kirchlichen Gesinnung. So war auch er ein braver Mustermensch geworden, dem man sein leichtes Körpergebrechen gern nachsah. Cäsar und Konstanze hatten ihn oft in Cäsarines
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