Cäsar Cascabel
sei…
Nein! es war Wirklichkeit.
Sie konnte nicht mehr daran zweifeln, als Ortik am folgenden Morgen zu Herrn Cascabel sagte:
»Sie wissen, daß Kirschef und ich die Absicht hatten, Sie auf der andern Seite des Ural zu verlassen, um nach Riga zu gehen. Jetzt haben wir aber überlegt, daß es besser wäre, Ihnen bis nach Perm zu folgen und dort den Gouverneur zu bitten, unsere Heimsendung bewerkstelligen zu wollen… Werden Sie uns gestatten, die Reise mit Ihnen fortzusetzen?«
»Mit Vergnügen, meine Freunde,« antwortete Herr Cascabel. »Wenn man zusammen aus so weiter Ferne gekommen ist, so muß man sich möglichst spät trennen: es wird auch dann noch immer zu früh sein!«
XII. Eine trotz der Ankunft unbeendete Reise.
So war der abscheuliche Anschlag beschaffen, der gegen den Grafen Narkine und die Familie Cascabel geplant worden war! Und das in einem Augenblick, wo ihre lange Reise nach so vielen Beschwerden und Gefahren ein glückliches Ende nehmen sollte! Noch zwei bis drei Tage und die Uralkette war überschritten und die Belle-Roulotte brauchte nur mehr hundert Meilen auf ebener Erde zurückzulegen, um gegen Südwesten hin Perm zu erreichen!
Wie man weiß, gedachte Cäsar Cascabel sich einige Zeit in dieser Stadt aufzuhalten, damit Herr Sergius sich allnächtlich ohne Schwierigkeit und unerkannt nach Schloß Walska begeben könne. Dann würde dieser, je nach den Umständen, im väterlichen Schlosse bleiben, oder seine Gefährten nach Nischni… vielleicht gar nach Frankreich begleiten!
Ja! aber falls Herr Sergius in Perm zu bleiben beschloß, würde man sich von Kayetten trennen müssen, die er dort behalten würde!…
Das war es, was Jean sich immer wieder sagte, was ihn quälte, was ihm das Herz zerriß. Und diesen so aufrichtigen, so tiefen Kummer teilten seine Eltern und seine Geschwister. Keiner von ihnen konnte sich in den Gedanken hinein finden, Kayette nicht mehr sehen zu sollen!
An jenem Morgen suchte Jean, trostloser denn je, die junge Indianerin auf und als er sie bleich, niedergeschlagen, mit von der Schlaflosigkeit geröteten Augen erblickte, fragte er besorgt:
»Was fehlt dir, Kayette?«
»Nichts, Jean,« antwortete sie.
»Doch!… Du bist krank!… Du hast nicht geschlafen!… Du siehst aus als ob du geweint hättest, kleine Kayette!«
»Das ist die Folge des gestrigen Gewitters… Ich konnte die ganze Nacht kein Auge schließen.«
»Die Reise hat dich sehr ermüdet, nicht wahr?«
»Nein, Jean!… Ich bin ja stark!… Bin ich doch an jegliches Elend gewöhnt!… Es wird schon vorübergehen!«
»Was fehlt Dir, Kayette?… Sag es mir… ich bitte dich!…«
»Nichts, Jean!«
Und Jean beharrte nicht weiter.
Als sie den armen Jungen so unglücklich gesehen, war Kayette auf dem Punkte gewesen, ihm alles zu sagen! Es schmerzte sie so sehr, ein Geheimnis vor ihm zu haben! Aber da sie seinen entschlossenen Charakter kannte, sagte sie sich, daß er sich in Gegenwart Kirschefs und Ortiks schwerlich beherrschen werde. Vielleicht würde er sich hinreißen lassen!… Eine Unbesonnenheit aber konnte dem Grafen Narkine das Leben kosten. Und so schwieg Kayette.
Nachdem sie die Sache lange erwogen hatte, beschloß sie, Herrn Cascabel von ihrer Entdeckung in Kenntnis zu setzen. Aber dazu mußte sie mit ihm allein sein und das würde sich während des Uralüberganges schwer erreichen lassen, denn es war von Wichtigkeit, daß die beiden Russen keinen Verdacht schöpften.
Übrigens drängte die Zeit nicht, da jene Elenden ja vor der Ankunft der Familie in Perm nichts zu unternehmen gedachten. Ihr Mißtrauen konnte nicht rege werden, solange Herr Cascabel und die Seinigen sie genau so wie früher behandelten. Hatte Herr Sergius ihnen doch ebenfalls seine Befriedigung kundgethan, als er hörte, daß Ortik und Kirschef bis Perm mitreisen wollten.
Um sechs Uhr morgens – am siebenten Juni – brach die Belle-Roulotte von neuem auf. Eine Stunde später gelangte sie an die Quellen der Petschora, nach welcher der Engpaß benannt ist. Jenseits der Kette zu einem der großen Ströme Nordrußlands geworden, ergießt die Petschora sich nach einem Laufe von eintausenddreihundertfünfzig Kilometern ins Eismeer.
Auf jener Höhe des Passes war diese Petschora erst ein Gießbach, der in einem zerklüfteten und ungleichen Bette am Fuße der Tannen-, Birken-und Lärchenwälder hinfließt. Man braucht bloß ihrem linken Ufer zu folgen, um den Ausgang des Passes zu erreichen. Wenn man auch an den steilen
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