Cäsar Cascabel
sich Sitka. Vielleicht hätte die Belle-Roulotte noch schneller vorwärts kommen können, wenn Cornelia nicht gefürchtet hätte, daß das Rütteln ihrem Verwundeten schaden könnte, welchen Kayette und sie unermüdlich pflegten, die eine wie eine Mutter, die andere wie eine Tochter. Es war noch immer zweifelhaft, ob der Kranke das Ziel der Reise lebend erreichen werde. Wenn sein Zustand sich nicht verschlimmert hatte, so konnte man leider auch nicht sagen, daß er sich gebessert habe. Wie hätten die geringen Hilfsmittel, welche die kleine Apotheke bot, das wenige, was die beiden Frauen angesichts einer so schweren, ärztlichen Eingreifens bedürftigen Verwundung thun konnten, genügen sollen? Die Hingebung kann niemals die Wissenschaft ersetzen – leider! – denn niemals hatten barmherzige Schwestern sich hingebender gezeigt. Übrigens hatte jedermann den Eifer und die Intelligenz der jungen Indianerin schätzen gelernt. Sie schien bereits zur Familie zu gehören. Sie war gewissermaßen eine zweite Tochter, welche der Himmel der Frau Cascabel geschenkt.
Am Nachmittage des siebenten passierte die Belle-Roulotte eine Furt des Stekin-River, eines kleinen Flusses, der sich in einen engen Meeresarm zwischen dem Festlande und der Baranow-Insel, nur mehr wenige Meilen weit von Sitka ergießt.
Abends vermochte der Verwundete einige Worte hervorzubringen.
»Mein Vater… da unten… wiedersehen!« murmelte er.
Da diese Worte auf russisch gesagt worden, verstand Herr Cascabel sie vollkommen.
Auch wurde ein Name mehrmals wiederholt: »Ivan… Ivan…«
Ohne Zweifel war das der Name des unglücklichen Dieners, der an der Seite seines Herrn ermordet worden.
Sehr wahrscheinlich waren beide von moskowitischer Herkunft.
Wie dem auch sein mochte, da der Verwundete Sprache und Erinnerung wiederzugewinnen begann, so würde die Familie Cascabel bald seine Geschichte erfahren.
Niemals hatten sich barmherzige Schwestern dienstbereiter gezeigt. (Seite 96.)
An jenem Tage war die Belle-Roulotte an den Rand des engen Kanals gelangt, über welchen man setzen muß, um die Baranow-Insel zu erreichen.
Folglich mußte man sich an die Schiffer wenden, die den Dienst auf jenen zahlreichen Meerengen versehen.
Nur konnte Herr Cascabel nicht hoffen, mit den Bewohnern des Landes in Berührung zu treten, ohne seine Nationalität zu verraten. Es stand zu befürchten, daß die ärgerliche Paßfrage von neuem auftauchen werde.
»Nun,« sagte er, »unser Russe wird darum doch nach Sitka gelangen!
Wenn die Polizisten uns zwingen, an die Grenze zurückzugehen, so werden sie doch wenigstens ihn als einen ihrer Landsleute dabehalten; und da wir den Anfang damit gemacht haben, ihn zu retten, so müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihn nicht zum Schlusse heilten!«
Eine Anschauungsweise, die ihr Gutes hatte, die aber doch nicht verfehlte, die Familie betreffs des ihrer harrenden Empfanges zu beunruhigen. Es wäre eben grausam gewesen, Sitka zu erreichen und dann doch den Weg nach New-York einschlagen zu müssen.
Während der Wagen am Ufer des Kanals harrte, war Jean gegangen, sich nach der Fähre und den Schiffern zu erkundigen, mit deren Hilfe der Übergang bewerkstelligt werden sollte.
In diesem Augenblicke kam Kayette, Herrn Cascabel zu melden, daß seine Frau seiner bedürfe.
Er begab sich sofort zu ihr.
»Unser Verwundeter ist bei voller Besinnung,« sagte Cornelia. »Er spricht, Cäsar, und du mußt zu verstehen suchen, was er will…«
In der That hatte der Russe die Augen geöffnet, blickte um sich und musterte fragend die Personen, die er zum erstenmale in seinem Leben sah. Hin und wieder fielen unzusammenhängende Worte von seinen Lippen.
Endlich rief er mit schwacher, kaum vernehmlicher Stimme nach seinem Diener Ivan.
»Mein Herr,« sagte Herr Cascabel, »Ihr Diener ist nicht hier, aber wir sind da…«
Auf diese französisch gesprochenen Worte antwortete der Verwundete in derselben Sprache:
»Wo bin ich?«
»Bei Leuten, welche Sie gepflegt haben, mein Herr…«
»Aber das Land?…«
»Es ist ein Land, in dem Sie nichts zu befürchten haben, falls Sie Russe sind…«
»Russe… ja… Russe…«
»Nun denn, Sie sind in der Provinz Alaska, wenige Meilen von der Hauptstadt…«
»Alaska!« murmelte der Verwundete.
Und es zuckte etwas wie Schrecken durch seinen Blick.
Jean deutete nach dem amerikanischen Grenzhaus hin. (Seite 96.)
»Auf russischem Boden!…« flüsterte er.
»Nein!… Auf
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