Café der Nacht (German Edition)
den Kopf schief. „Warum bist du traurig?“
Er musste lächeln. Niemand außer Gypsy konnte ihn so leicht durchschauen und lesen. „Später.“
* * *
Maxim fühlte sich wie ein Besucher einer fremden Welt, die ihm absurd und unverständlich erschien. Das bleiche Gesicht auf dem Krankenhauskissen schien nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinem Vater zu haben. Das hydraulische Klacken des Beatmungsgerätes mit einem Krakenarm von Schlauch in seinen Mund überlagerte alle anderen Geräusche. Der kleine Raum auf der Intensivstation hatte ein großes Fenster zum Gang hin, auf dem Pflegepersonal wichtig hin und her eilte. Hilda saß zusammengesunken im Stuhl jenseits des Krankenbettes. Sie war eine schlanke Frau mit groben Gesichtszügen und mitfühlenden Augen. Ihr kinnlanges, gerade geschnittenes Haar, ehemals dunkelbraun, hatte mit den Jahren einen schwer definierbaren Graubraunton angenommen, Mimikfalten zogen sich wie Ackerfurchen durch ihr Gesicht. Sie hielt ein feuchtes, zusammengeknülltes Papiertaschentuch fest umklammert.
„Ach, ich bin so froh, dass Sie gekommen sind“, bemerkte sie schon zum wiederholten Mal. „Ich weiß, Ihr Herr Papa hätte sich das gewünscht.“ Das bezweifelte Maxim stark, doch er ließ die schwer Erschütterte reden. „Ach, die Familie ist halt das wichtigste im Leben. Er braucht Sie jetzt. Jemand muss schließlich alles regeln, die Geschäfte weiterführen ...“
„Die Geschäfte?“ Maxim sah sie entgeistert an. „Was habe ich damit zu tun? Dafür hat er doch Horwarth.“
„Wissen Sie denn gar nicht, dass er sich mit Herrn Horwarth überworfen hat? Er arbeitet nicht mehr für ihn.“
„Wann ist das denn passiert?“
„Vor Monaten schon. Der Herr Horwarth hatte ganz andere Vorstellungen. Der wollte alles modernisieren, das hat Ihren Vater sehr aufgeregt. Sie sind ja der Alleinerbe. Er hat niemand anderen eingesetzt.“
Maxim runzelte verunsichert die Stirn. Er war ernsthaft überrascht, dass er nicht schon Stunden nach seiner Flucht aus dem Elternhaus enterbt worden war. „Ist ja auch egal im Moment. Er wird schon wieder gesund werden“, wehrte er nach einer langen Pause ab.
Hilda blickte ihn mit wässrigen Augen an und schnäuzte sich kräftig in das mitgenommene Taschentuch. „Das dürfen Sie nicht so leicht nehmen. Sie haben den Herrn Doktor doch gehört.“ Sie warf einen mitleidigen Blick auf den unerhört zerbrechlich wirkenden Komatösen im Krankenbett und dämpfte unwillkürlich die Stimme. „Vielleicht wacht er nie wieder auf.“
* * *
Das Fenster des kleinen Gästezimmers über Gypsys Schänke war fast vollständig von Eisblumen überwachsen, dahinter schwarze Nacht. Gypsy rumorte unten in der Küche. Sie hatte sich nicht davon abbringen lassen, ihm eine lokale Spezialität zu kochen. Kaum zu glauben , dass jemandem von ihrem Format so ein Mist auf einmal wichtig war. Den Namen Gypsy hatte Lola ihr gegeben. Ihr richtiger Name war Sandrine Runné. Gypsy war einfach in ihr Leben geschneit wie ein Himmelsgeschenk, falls es so etwas gab. Das war die beste Zeit gewesen. Er hatte Lola nie so glücklich gesehen, wie mit Gypsy. Doch Lolas verdammte Selbstsucht und ihre Spielchen hatten sie letztlich vertrieben, genau wie alle anderen. Doch als das mit dem Heroin angefangen hatte, war Gypsy wieder da gewesen. Sie hatte es geschafft, Lola zum Entzug zu bewegen. Auf lange Sicht hatte das nichts gebracht, aber er hatte nicht vergessen, dass sie es zumindest versucht hatte. Als Einzige. Als Lola sie gebraucht hatte, war plötzlich keiner ihrer zahllosen Freunde mehr da gewesen. Gut ein Jahr, bevor Lola und er auf der Straße gelebt hatten. Bevor sie sich verkauft hatte, bis kein Freier diesen abgewrackten Schatten einer Frau noch hatte anfassen wollen. Dann hatte Monroe alleine für sie gesorgt. Er konnte Lolas Stimme hören. „Du musst Geld besorgen, Tintin. Mir geht's nicht gut. Ich brauche was. Nur noch dieses Mal, versprochen. Nur noch dieses eine Mal.“
Er starrte in die Nacht hinaus und musste an Maxim denken. Er seufzte leise. Er hatte gebettelt, gestohlen, er hatte Dinge getan, für die er sich selbst verachtete. Und Max mit seiner kleinen, traurigen Kindheit hinter dem Eisenzaun seiner Villa. Maxim hatte sein eigenes Recht darauf, gegen seinen Vater zu grollen, auf seine Mutter wütend zu sein. Ein Recht darauf, als grauenvoll zu empfinden, was hinter ihm lag. Es war grauenvoll. Lauter traurige kleine Geschichten, die sich Menschen
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