Café der Nacht (German Edition)
endgültig voll davon. Ariel liebte Vida. Und nun auch noch Max. Ausgerechnet Max. Es tat weh, verflucht weh. Vida war immer ein Ventil gewesen, eine Möglichkeit, sich auszuklinken, abzuschalten, wenn es nötig war. Er wusste nicht genau, wann er angefangen hatte, sie zu hassen. Vielleicht, als er gemerkt hatte, wie sehr Ariel sie brauchte. Doch er hätte niemals gedacht, dass Max, sein Max, ebenfalls auf sie hereinfallen würde. Dass er sich in Vida verlieben würde. Dabei war er selbst schuld daran. Er hatte Vida zu einem Ideal gemacht, zu etwas, das er niemals sein konnte. Er konnte nicht geben, wie sie. Er konnte nicht nehmen, wie sie. Das Einzige, was er wirklich gut beherrschte, war so zu tun, als ob. Das war sein Segen und sein Fluch. Irgendwie hatte Maxim es geschafft, zu ihm durchzudringen, seine Mauern zu durchbrechen. Ihm unter die Haut zu gehen. Tief unter die Haut. Zu tief. Er hätte es nie soweit kommen lassen sollen. Jetzt hatte er die Zeche zu zahlen.
„Hast du ihn noch, den Brief?“, fragte er unvermittelt.
Gypsy sah ihn lange an, unverwandt. Dann lächelte sie. „Also deshalb bist du hier. Das ist gut. Wenn ich dich so sehe, denke ich, du bist bereit dafür.“
* * *
Das sah seinem Vater ähnlich. Selbst noch im Koma schaffte er es, Maxim das bisschen Freiheit, das er sich so mühsam im Café der Nacht erkämpft hatte, wie mit einem Fingerschnipsen wegzunehmen. Selbst im Koma bestimmte er allmächtig über sein Leben. Die Prognose war nicht gut. Die Ärzte hatten von Hirnblutungen gesprochen, die den Hirnstamm geschädigt hätten. Selbst wenn er wieder erwachen sollte, müsste man davon ausgehen, dass er nie wieder derselbe wäre. Maxim wusste, er hätte darüber bestürzt und betroffen sein müssen. Doch alles, was er empfand, war Wut. Er hätte seinen Vater schlagen wollen, doch der lag im Krankenhausbett, an alle möglichen blinkenden, piependen Apparate angeschlossen, und sah so klein und hilflos aus. Er hasste ihn dafür. Und gleichzeitig verabscheute Maxim sich selbst, so zu empfinden. Er musste ein schrecklicher Mensch sein.
Es war surreal, wieder in die Villa zurückzukehren. Nichts hatte sich verändert. Es roch im Treppenhaus noch immer intensiv nach altem Stein und dem Kalk der Wände. Die Parkettböden des Gründerzeitbaus knarrten noch an denselben Stellen, die Fresken und goldgerahmten Bilderschinken an den Wänden der breiten Flure blickten ihm ebenso seelenlos entgegen, wie eh und je. Es war ein Haus, das repräsentierte, kaum dafür gedacht, bewohnt zu werden. Zu groß, zu protzig, zu klobig. Es widersetzte sich beharrlich aller Behaglichkeit. Zu Maxims Verwunderung war in seinem Zimmer alles noch genauso, wie er es zurückgelassen hatte. Er hatte erwartet, dass sein Vater alles längst hatte wegwerfen lassen. Maxim sank aufs Bett mit der preußisch harten Matratze, noch immer sorgsam bedeckt von der Tagesdecke, die seine Mutter ausgesucht hatte. Auf dem Bücherregal standen feinsäuberlich liebe Vertraute aus Kindertagen, Winnetou, Der kleine Hobbit, Peter Pan . Es war seltsam anrührend, das zu sehen. Hier war er also wieder. Zurück in seinem alten Gefängnis, ganz allein.
* * *
Monroe konnte sich nicht hinsetzen, um Lolas Brief zu lesen. Sie hatte ihn damals geschrieben, als sie in der Entzugsklinik gewesen war, während Gypsy auf ihn aufgepasst hatte. Der einzige Brief, den er je von ihr erhalten hatte. Und er hatte ihn ni cht lesen wollen. Er war ein störrisches Kind gewesen. Trotzig, zornig, nicht begreifend, warum Lola plötzlich fortgegangen war. Er hatte geschworen, nie wieder ein Wort mit ihr zu sprechen. Natürlich war das längst vergessen gewesen, als sie schließlich wiederkam. Genauso wie Lolas Brief. Doch Gypsy hatte ihn an sich genommen und aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit erinnerte sie ihn daran. Bis heute hatte er nicht wissen wollen, was darin stand, und doch war das Schreiben stets da gewesen, wie ein nagendes Gefühl in seinem Hinterkopf.
Monroe lehnte sich an den Kaminsims seines Herbergszimmers und riss den Umschlag mit dem Zeigefinger auf. Er zog das nur einseitig beschriebene, weiße Blatt Papier heraus. Der Brief war in Lolas Muttersprache Englisch verfasst. Monroe selbst konnte nicht sagen, was seine Muttersprache war. Sie waren immer auf Reisen gewesen, überall zuhause und nirgends. Die Tinte war mit den Jahren blass und lila geworden. Lolas Handschrift war fahrig und an manchen Stellen fast unleserlich. Vertraut. Er
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