Café der Nacht (German Edition)
Schnell folgte er.
Am klaren, kobaltblauen Abendhimmel zeigten sich funkelnd erste Sterne. Dass es frostig kalt war, merkte Maxim nur daran, dass Vida die Hände in den Taschen ihres Mantels vergrub. Für ihn selbst schienen an diesem Tag weder Klima noch Zeit zu existieren. Einträchtig schlenderten sie auf dem breiten, noch teils mit speckig glänzenden Eisresten verklebten Bürgersteig in Richtung Café der Nacht dahin. Streusalz knirschte unter ihren Schritten. Ihr Atem war sichtbar in der Abendkälte. Je weiter sie in die Gassen des Viertels eindrangen, desto weniger Passanten begegneten ihnen. Schließlich schien es nur noch den sich einschwärzenden Himmel, den milchigen Schein der Straßenlaternen und sie beide zu geben. Die Nachtluft füllte kräftig Maxims Lungen, scharf und frisch. Er hätte ewig so weiterlaufen mögen. Er fühlte sich unendlich wohl in Vidas Gegenwart. Er wünschte, sie könnten Freunde werden. Er hatte das Gefühl, dass er bei ihr vollkommen er selbst sein konnte. Nach so etwas hatte er sich immer gesehnt. Wie eigenartig, dass es ihm ausgerechnet mit ihr so ging, mit einer fiktiven Person, die es doch gar nicht wirklich gab. Viel zu bald hatten sie die Sterntalergasse und das Café erreicht. Maxim konnte dumpfes Lachen und grölendes Singen aus dem Kellergewölbe heraufschallen hören. Er zögerte, die Haustür zu öffnen. Er wollte Vida ungern wieder gegen Monroe eintauschen. Man konnte so gut mit ihr reden. Er fühlte sich geborgen bei ihr.
„Danke für heute“, sagte er leise. „Können wir das eventuell einmal wiederholen?“
Vida lächelte und blickte ihn an, die Augen noch für einen kostbaren Moment empfänglich und weich. „Jederzeit, Maxim.“
* * *
Dela hatte es drei Tage zuvor aus den Nachrichten erfahren, und noch immer wartete sie darauf, dass die leere Taubheit von ihr abfallen würde, und sie etwas empfinden könnte. Auch in den Tageszeitungen würdigte man Darius. Sie hörte die Künstler im Kaffeehaus an allen Tischen darüber reden. Darius Meander, einer der meistbeachteten Maler seiner Generation war mit zweiundfünfzig Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Sein früher Tod hatte Dela getroffen, doch nicht über die Maßen überrascht. Sie hatte ihn als starken Raucher gekannt, der sein Leben in vollen Zügen und ausschweifungsreich genossen hatte, ohne sich um mögliche Folgen zu scheren. Nein, die Folgen seines Handelns hatte Darius niemals bedacht.
Sie trat gedankenverloren ans Fenster, das auf den zartgrün ausschlagenden Kastanienbaum blickte. Sie sah sich als junges Mädchen, kaum sechzehn, in Darius’ Armen liegen, lachend, sorglos sein Genie anbetend. Nachdem sie aus ihrem Elternhaus weggelaufen war, war sie seine Muse und er ihr Zuhause geworden. Er war ihre ganze Welt gewesen. Sie lächelte, nicht ohne Melancholie. Sie erinnerte sich noch heute intensiv anden Duft seines Aftershaves, den Geruch seiner Haut. „Delilah“, schien ihr seine sanfte Stimme in den Ohren zu klingen. „Kleine, süße Delilah.“
Dela fühlte sich an manchem Tag wie ein Friedhof der Geheimnisse. Eine verborgene Bucht, in welche die Gezeiten ihre Schiffswracks spülten. Die Strömung trieb auch Schiffbrüchige an ihren Strand, und sie nahm sie stets auf mit offenen Armen. Sie hörte zu, sie gab bereitwillig ihren Rat, wenn man sie darum bat. Sie behielt das, was man ihr anvertraute, für sich. Menschen kamen durch ihre Tür, sie blieben für eine Weile, sie gingen wieder. Dela mochte dieses Fließen, die Leichtigkeit, die darin lag. Sie kümmerte sich um andere und vergaß darüber oft genug sich selbst, ihr eigenes Leben. Doch nach der Nachricht von Darius’ Tod war alles anders. Dela wusste mit scharfschmerzender, nüchterner Klarheit, dass nun alles aus, dass alles zu spät war. Sie hätte mit mehr Nachdruck darauf drängen müssen, solange sie Gelegenheit dazu gehabt hatte. Sie hätte darauf bestehen, die Antwort einfordern müssen. Sie hatte es durchaus versucht, jedes Mal, wenn sie ihn gesehen hatte. Das letzte Mal lag fünf Jahre zurück. Doch Darius konnte sehr überzeugend sein, und stets genügend Gründe anführen, weshalb es besser war, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Teils stimmte sie ihm zu. Und sie glaubte ihm, wollte ihm nur zu gerne all die Jahre glauben, wenn er ihr sagte, dem Kind ginge es gut und es entwickle sich prächtig. Es sei die richtige Entscheidung gewesen, für jeden von ihnen. Es sei und bliebe ihrer beider Geheimnis, das sie zu
Weitere Kostenlose Bücher