Café der Nacht (German Edition)
hingebungsvoll die Augen geschlossen. Ihre Lippen schmeckten nach Schokolade. Ruckartig wich er zurück. Florentine schlug die Augen auf und sah ihn an. Sie schluckte, dann nickte sie.
„Ich verstehe.“
„Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du ...“
„Schon gut.“ Sie lachte und bemühte sich, so zu wirken, als wäre das keine große Sache, doch ihm entging nicht die Verletzung in ihren Augen. Sie hielt ihm die Hand hin. „Freunde?“
Dankbar ergriff er sie. „Freunde.“
Sie gingen weiter, schweigend. Die heitere Stimmung war dahin. Maxim ging alles Mögliche durch den Sinn. Endlich war da mal jemand, der sich allen Ernstes für ihn interessierte, und dann musste es ausgerechnet ein Mädchen sein. Er fühlte sich überrumpelt und seltsam geschmeichelt. Und gleichsam abscheulich. Er wusste, wie es war, zurückgewi esen zu werden. Er wollte Florentine doch wirklich nicht wehtun. Wie schrecklich das war.
„Ehrlich“, sagte er schließlich verlegen, „wenn ich nicht auf Jungs stehen würde, dann könnte ich dir nicht widerstehen.“
Florentine blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. Dann schlug sie die Hand vor den Mund und begann zu lachen. Es klang, wie befreit. Sie breitete die Arme aus und drückte ihn unversehens an sich. „Ich hätte nie gedacht, dass ich je so froh sein würde, einen Mann das sagen zu hören!“
* * *
Mildgoldene Herbsttage, Drachenwetter, leichter Wind und tiefblauer Postkartenhimmel. Hoch über der Sterntalergasse kreisten Zugvögel in Formationen. Ihr Rufen erfüllte die Luft. Es roch in den Gärten nach verfaulendem Obst, ein Duft des Abschieds und der Wehmut. Dela hatte den Herbst immer gemocht. Sie mochte den Wandel, den er widerspiegelte. Schon bevor sie damals ihrem Ex-Mann das Jawort gegeben hatte, hatte sie gewusst, dass er sie nicht für ewig halten konnte. Sie hatte es ihm gesagt, doch er hatte es nicht hören wollen. Die Scheidung hatte Dela zu Wohlstand verholfen, obwohl das keineswegs in ihrer Absicht gelegen war. Wäre sie bei ihm geblieben, hätte sie ein Leben in Luxus führen können. Wäre sie bei ihm geblieben, wäre sie innerlich gestorben.
Dela hatte nie die magnetische Ausstrahlung Lolas besessen, die genau gewusst hatte, wie man Macht über Männer ausübt. Lola hatte keine Skrupel gekannt. Und sie war immer bereit gewesen, zu tun, was nötig war, um zu überleben. Dela hatte nie verstanden, wie ihre Schwester jemals so tief hatte sinken können. Sie sah sie noch, hörte sie singen, sah voller Stolz die Blicke des hingerissenen Publikums, das die Augen nicht von ihr wenden konnte. Und sie, die kleine Schwester, am Bühnenrand verborgen, den kleinen Tintin fest an ihrer Hand, der zappelnd mitsummte, noch bevor er ein Wort hatte sprechen können.
„Lass ihn doch bei mir“, bat sie Lola inständig. Es war nach vier Uhr morgens, das Licht fahl, als Lola ins Hotelzimmer zurückkehrte, betrunken. „Du kümmerst dich doch sowieso nicht um ihn! Du zerrst ihn von Stadt zu Stadt, von Land zu Land wie eine Requisite!“
„Ich weiß genau, was du vorhast! Das hattest du von Anfang an vor. Du willst ihn mir wegnehmen. Aber das kannst du dir abschminken, Schätzchen!“
„Sei doch nicht blöd, Lola. Ich will dir nur helfen. Tintin braucht ein stabiles Umfeld. Das hier ist kein Ort für ein Kind.“
„Jetzt hör mir mal zu: Du bekommst ihn nicht. Niemand bekommt ihn. Er gehört mir.“
„Du weißt doch gar nicht, welches Glück es ist, ein Kind zu haben!“
„Und? Was weißt du schon davon? Schaff dir gefälligst selbst eins an! Und jetzt verschwinde aus meinem Zimmer!“
Zwei Tage später hatte Lola den Tourmanager angewiesen, Dela jeden Zutritt zur ihr und der Truppe zu verweigern. Tintin war zu klein gewesen, um zu begreifen, warum er seine Tante plötzlich nicht mehr sehen durfte.
„Ich habe immer versucht, dich mir vorzustellen“, sagte Ariel leise, als Dela mit ihm abends bei einem Glas Wein zusammensaß. „Aber dein Bild hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Nur älter warst du stets, viel älter, als du bist. Und zerbrechlich. Ich weiß nicht, warum.“ Ihr Sohn schwieg kurz. Dann sah er sie wieder an mit seinen klugen blauen Augen, die ihren so ähnlich waren. „Meine Mutter hat mir diese Geschichte über dich erzählt, als ich klein war. Es war ein Märchen. Ich wollte es immer wieder hören, aber ich habe es nie geglaubt.“
„Was war das für ein Märchen?“
„Es war im Grunde eine dumme
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