Cagot
dann machten sie kehrt und folgten dem Shetland-Inspektor.
Die Steigung hatte es in sich; sie war zu steil, um während des Aufstiegs zu sprechen. Als sie endlich die Kuppe des hohen Hügels erreichten, spürte der Journalist das Blut in seiner Brust schmerzhaft pochen.
Der Wind war extrem stark. Sie befanden sich an der Kante eines Steilabfalls. Simon trat näher an den Abgrund, um einen Blick in die Tiefe zu werfen.
»Ach du Scheiße!«
Die Möwen, die am Fuß der Steilwand kreisten, waren winzige weiße Tupfer.
»Wahnsinn. Wie tief geht es hier runter?«
»Das ist eine der höchsten Steilküsten Europas, vielleicht sogar der Welt«, sagte Leask. »Fast vierhundert Meter hoch.«
Simon machte ein paar Schritte zurück.
»Sehr vernünftig«, bemerkte Leask. »Der Wind kann einen hier oben ohne weiteres umfegen - und einfach in die Tiefe reißen.« Er gluckste trocken und fügte hinzu: »Und trotzdem, wissen Sie, was … was wirklich erstaunlich ist?«
»Nein, was?«
»Diese Klippen ermöglichen den Inselbewohnern schon seit Jahrhunderten das Überleben hier.«
»Wie das?«
»Schauen Sie. Dort unten …« Der Shetland-Inspektor deutete auf ein paar Vögel auf halber Höhe der steilen Felswand. »Die Papageitaucher, sie nisten in den Kliffs. Wenn früher auf der Insel nach einem langen, harten Winter das Essen knapp wurde, kletterten die Einheimischen die Felsen hinunter, um die Eier und die Vogeljungen zu sammeln. In schlechten Zeiten war das eine wichtige Eiweißquelle. Junge Papageitaucher schmecken verdammt gut - sehr fetthaltig, Sie werden sehen.«
»Sie sind diese Felsen runtergeklettert?«
»Sicher. Aus diesem Grund haben sie so eine eigenartige Deformation entwickelt. Wie eine menschliche Subspezies.«
»Wie bitte?«
»Die Männer von Foula. Und die von Saint Kilda auch.« Leask zuckte mit den Achseln. Der Wind zauste sein rostrotes Haar. »Sie haben im Lauf der Jahrhunderte extrem große Zehen entwickelt, weil sie so besser die Klippen hinunterklettern konnten. Wahrscheinlich ein evolutionärer Prozess. Die Männer mit besonders großen Zehen konnten am besten klettern; deshalb bekamen sie am ehesten eine Frau und hatten die bestgenährten Kinder - und vererbten ihre großen Zehen weiter.«
»Jetzt im Ernst?«
»Aber sicher.« Leask schmunzelte.
Simon war ganz und gar nicht zum Lachen zumute. Der Hinweis auf die eigenartigen Zehen der Inselbewohner erinnerte ihn an die Füße der ermordeten alten Frau. Er musste diesen Punkt unbedingt ansprechen.
»Leute, könnten wir vielleicht mal, äh, aus dem Wind gehen?«
»Natürlich.«
Die zwei Polizisten und der Journalist zogen sich in eine kleine Senke zurück und setzten sich auf die feuchte Grasnarbe. »Sie haben eben die Zehen erwähnt, Mister Leask.«
»Ja?«
»Das ist wirklich komisch. Weil … Julie Charpentiers Zehen … sind Ihnen die nicht aufgefallen?«
Leask sah ihn verständnislos an. »Nein. Wieso?«
»Ist Ihnen nichts Ungewöhnliches an den Füßen des Opfers aufgefallen? An ihren Zehen?«
»Nein, was soll mit ihnen gewesen sein?«
Simon fragte sich, ob er dabei war, sich zum Narren zu machen.
»Die Zehen ihres rechten Fußes waren deformiert. Jedenfalls leicht.«
Sanderson runzelte die Stirn.
»Auf welche Weise, Simon?«
»Ich glaube, man nennt das Syndaktylie. Meine Frau ist Ärztin.«
»Und Syn…«
»Ja. Syndaktylie. Zusammengewachsene Zehen. Zwei der Zehen der alten Frau waren, zumindest zum Teil, miteinander verwachsen. Das kommt relativ selten vor, ist aber nicht vollkommen unbekannt…«
Sanderson zuckte mit den Achseln. »Und?«
Simon wusste, es war weit hergeholt. Aber er glaubte, auf eine wichtige Spur gestoßen zu sein.
»Erinnern Sie sich noch an die ermordete Frau in Primrose Hill? Was sie anhatte?«
In Sandersons Gesichtsausdruck kam es zu einer abrupten Veränderung.
»Meinen Sie die Handschuhe? Diese komischen Handschuhe?«
Bevor Simon etwas erwidern konnte, war Sanderson bereits aufgesprungen und ging, aufgeregt telefonierend, ein paar Schritte den sonnenbeschienenen Hang hinunter. Der Wind war zu ungestüm und laut, um verstehen zu können, was er sagte.
Simon saß im kühlen, aber strahlenden Sonnenschein und dachte an die Qualen der Frau, ihren einsam hinausgeschrienen Schmerz. Hamish Leask hatte die Augen geschlossen.
Sandersons sonst so rosiges Gesicht war merklich blasser, als er wenige Minuten später zurückkam.
»Ich habe gerade mit der Rechtsmedizin in London gesprochen.« Er wandte
Weitere Kostenlose Bücher