Cagot
nicht vermeiden. Miguel hat mich seinem Vater vorgestellt, Jose; mit ihm bin ich immer noch befreundet - er hat mir dabei geholfen, den Job zu bekommen. Und ich mag meinen Job sehr … genauso, wie ich diese Berge hier mag.« Sie seufzte. »Aber Miguel ist irgendwie überall präsent, er scheint mir überallhin zu folgen, seit… was du da in der Bar getan hast, war übrigens sehr mutig.«
»Hat er dich auch geschlagen, als ihr noch zusammen wart?«
»Ja. Das war der Auslöser. Er hat mich geschlagen, und darauf habe ich mit ihm Schluss gemacht. Dieses Schwein.«
Er dachte an die Narbe auf ihrer Stirn. Aber nach der Folge eines häuslichen Streits sah sie eigentlich nicht aus. Doch er wollte nicht weiter in sie dringen. Die Viehweiden wichen dichten Wäldern; sie kamen immer weiter in die Berge hinauf.
»Amy - danke, dass du mir das alles erzählt hast.« Er sah sie an. »Dazu wärst du nicht verpflichtet gewesen. Übrigens, du musst mir nicht mehr helfen, ich komme schon allein klar.«
»Doch, doch. Inzwischen geht das auch mich was an.«
»In gewisser Weise, ja.«
»Nicht bloß in gewisser Weise«, sagte sie. »In jeder Hinsicht.
Außerdem kann ich deine Situation irgendwie ganz gut … nachvollziehen.«
»Wie das?«
»Wegen meiner eigenen Familie.« Leichter, boshafter Regen tröpfelte auf die Windschutzscheibe. »Mein Vater ist gestorben, als ich zehn war; bald darauf fing meine Mutter zu trinken an. Mein Bruder und ich mussten praktisch selbst für uns sorgen. Schließlich ist mein Bruder nach Australien ausgewandert. Und trotzdem sind meine Alkoholikermutter und mein Bruder am anderen Ende der Welt alles, was mir geblieben ist. Der Rest meiner Familie ist in den Vernichtungslagern der Nazis ums Leben gekommen - meine ganze Verwandtschaft. Sie wurden alle ermordet. Deshalb fühle ich mich wahrscheinlich auch ein bisschen … wie ein Waisenkind.« Sie sah ihn an. »So ähnlich wie du.«
Amys blondes Haar flatterte in dem kühlen, regnerischen Luftzug, der durch das offene Fenster kam. Ihre Beichte schien eine beruhigende Wirkung auf sie ausgeübt zu haben; sie wirkte nicht mehr so aufgewühlt.
»Da vorn musst du rechts abbiegen. Hinter der Kapelle.«
Gehorsam drehte er am Lenkrad.
»Ich frage mich …«, fuhr sie fort. »Manchmal frage ich mich, ob diese Seelenverwandtschaft, dieser ganz spezielle Draht, den ich zu den Basken habe, etwas damit zu tun hat, dass ich Jüdin bin. Denn sie haben einen sehr stark ausgeprägten Sinn dafür, wer sie sind und wohin sie gehören. Sie sind schon so lange hier. Ein Volk, das seit Urzeiten an einem festen Ort lebt. Dagegen sind die Juden schon seit jeher auf der Wanderschaft und werden auch weiterhin auf der Wanderschaft bleiben.« Sie rieb sich das Gesicht, als versuchte sie, wach zu werden. »Wie auch immer. Wir sind gleich da.«
David schaltete herunter, als er um die letzte Kurve bog. Er dachte an Miguel Garovillo, die schmalen, bedrohlichen Gesichtszüge, die dunklen, aggressiven Augen. Amy hatte ihm versichert, dass Miguel nicht im Haus seines Vaters auftauchen würde. Jose hatte es ihr versprochen.
Aber es war nicht so einfach, zu vergessen, mit welch wilder, gewalttätiger Eifersucht Miguel Amy angegriffen hatte. Mit mehr als nur Eifersucht. Mit lustvollem Hass.
Amy deutete nach vorn. »Nicht so schnell - hier, die kleine Straße dort.«
Es war ein schattiger Feldweg mit tiefen Fahrrinnen, der direkt in die dunstverhangenen Berge hinaufzuführen schien. Vorsichtig steuerte David den Wagen den schmalen schlammigen Weg hinauf; gerade als die Räder durchzudrehen begannen, erreichten sie eine Lichtung, und Amy sagte: »Wir sind da.«
Das Haus war winzig, hübsch, weiß gekalkt und hatte grüne Holzläden. Der Regen hatte aufgehört, und Speere aus Sonnenlicht drangen durch den sich verflüchtigenden Nebel. Vor dem Haus stand, stolz mit einer Baskenmütze winkend, der rüstigste alte Mann, den David je gesehen hatte. Er hatte extrem lange Ohrläppchen.
»Epa!« Jose Garovillo nahm David sehr genau in Augenschein, als er aus dem Auto stieg. »Zer moduz? Pozten naiz zu ezagutzeaz?«
»Äh…«
»Ha, keine Sorge, mein Freund David … Martinez!«, sagte der alte Mann schmunzelnd. »Ich werde Sie nicht nötigen, Baskisch zu sprechen. Ich beherrsche Ihre Muttersprache recht gut. Ich mag die englische Sprache sehr, vor allem ihre Schimpfwörter. Knödelkopf! Da kann Finnisch nicht mithalten.«
Er grinste und wandte sich Amy zu. Doch dann sah er den
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