Cagot
gegen die im Dunst verschwimmenden Berge die Silhouette eines am Himmel kreisenden Bussards ab.
»So«, sagte Amy schließlich. »Das ist alles, was ich gefunden habe. Nicht sehr viel, aber dafür umso eigenartiger. Die Cagots scheinen eine massiv diskriminierte Minderheit von Unberührbaren gewesen zu sein, ähnlich den indischen Paria. Sie sind vor allem in den Pyrenäen beheimatet.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Sie hatten eigene Türen, die mit einem speziellen Symbol gekennzeichnet waren. Dem Patte d’oie natürlich.«
»Eine Minderheit? Von Parias?«
»Das steht hier jedenfalls. Ja. Sie hatten eigene kleine Eingänge in den Kirchen. Viel mehr konnte ich nicht finden. Ich glaube … wenn wir mehr wissen wollen …«
»Ja?«
»Hier gibt es eine gute Website, dernieredescagots dot fr - der letzte der Cagots. Es ist die Internetseite eines Mannes, der Cagot ist. Er lebt in Gurs. Wir könnten …«
David startete bereits den Motor. Amy protestierte: »Aber, David … das ist in unmittelbarer Nähe von Navarrenx. Was ist, wenn Miguel…«
Davids Antwort war sehr bestimmt. »Amy. Ich kann dich gern zum nächsten Bahnhof fahren und gebe dir zehntausend Euro, und du brauchst dich nie wieder bei mir zu melden - was ich vollkommen verstehen könnte …«
Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm.
»Wir stecken da beide drin. Das ist zu spät. Nein. Außerdem kenne ich Miguel.« In ihren Augen leuchtete eine seltsame Mischung aus Angst und Traurigkeit auf, als sie den Kopf schüttelte. »Ich kenne ihn doch. Er hat es auf mich abgesehen, egal, was ich tue. Er wird mich und dich umbringen. Einzeln oder gemeinsam. Deshalb …«
»Deshalb bleiben wir zusammen.«
David fuhr in Richtung Gurs los; Amy hatte auf dem Handy den Navigator eingeschaltet und sagte ihm, wie er fahren musste. »Immer geradeaus, dann da vorn links, ja, hier …«
Gurs war tatsächlich so trostlos, wie es ihnen kurz zuvor bei der Durchfahrt erschienen war: ein paar düstere alte Villen, eine stillgelegte Bahnstrecke. Das triste Rathaus war von planlos angeordneten Bungalows umgeben, und die Brasserie d’Hagetmau war geschlossen. Es war ein Ort, dem von den größeren Gemeinden in der Umgebung das Leben ausgesaugt worden war. Oder einfach ein Ort, in dem niemand leben wollte, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
Eine scharfe Kurve führte zu einer weiteren Reihe Bungalows, deren Gärten nach den jüngsten Regenfällen in voller Blütenpracht standen.
»Das muss es sein, die Nummer stimmt jedenfalls.« Amy deutete auf den letzten Bungalow in der Reihe, der etwas isoliert stand. Er befand sich gegenüber einer ziemlich hässlichen modernen Kirche mit einem Büroanbau. Dahinter war verwahrlostes Brachland.
Sie gingen auf einem gepflasterten Weg auf die Eingangstür zu, die in einem verklemmt fröhlichen Gelb gestrichen war. David hatte das Gefühl, dass sich in anderen Häusern der stillen Vorortstraße Vorhänge bewegten: alte Gesichter, die nach draußen spähten. Er drehte sich um. Niemand schaute.
Er drückte auf den Klingelknopf. Ein kirchlich anmutender Glockenton ertönte. Nichts rührte sich. Amy beobachtete die Fenster.
»Vielleicht ist niemand …«
David klingelte noch einmal. Und fragte sich, wo Miguel war. Dann hörte er ein Geräusch. Einen Schrei. Jemand schrie sie hinter der geschlossenen Haustür an.
»Was …?«
Wieder ertönte ein Schrei. Zutiefst aufgewühlt, fast überschnappend.
David hob den Deckel des Briefkastenschlitzes an und spähte nach drinnen.
In der Diele kauerte eine junge Frau. Sie hatte eine Flinte. Sie zitterte und hielt die Waffe sehr unbeholfen, aber sie zielte damit auf die Tür. Auf David und Amy.
17
Inspector Sanderson hielt nicht viel von Simons Vorhaben, mit Professor emeritus Francis St. John Fazackerly zu sprechen, Willard-Preisträger für Humangenetik und Exchef von GenoMap.
»Na dann, viel Glück. Das werden Sie nämlich brauchen, mein Lieber.« Sandersons aufgekratzte Stimme kam sehr deutlich aus dem Handy an Simons Ohr. »Aus diesem alten Sack ist einfach nichts Brauchbares rauszukriegen. Wir haben bereits letzte Woche mit ihm gesprochen.«
»Ja?«
Simon überquerte gerade die Euston Road und blickte auf die blitzenden Büros des Wellcome Institute. Es lag inmitten medizinischer Forschungszentren und universitärer Hightech-Institute, und die vielen jungen Studenten, die schwatzend und lachend vor den Pubs herumstanden, ließen Simon seine vierzig Jahre so
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