Cagot
Dorf Gurs, das mehr oder weniger ein Vorort von Navarrenx war.
Gurs war sehr weitläufig angelegt. Die lange Hauptstraße des Orts war auf beiden Seiten von Bäumen gesäumt, deren Stämme unten weiß gekalkt waren. Am Südrand von Gurs befand sich ein größeres unbebautes Gelände, seltsam steril, vollkommen flach, mit einigen wenigen Glasbauten, die an Bushaltestellen erinnerten. Und in der Mitte dieser weiten, leeren Fläche stand ein riesiges schwarzes Kruzifix. David starrte es im Vorbeifahren fasziniert an, doch zugleich überkam ihn ein fast unwiderstehlicher Drang, schneller zu fahren, und er wandte den Blick abrupt ab. Das Kreuz war so ungeheuer schwarz.
Sie fuhren weiter die schnurgerade Hauptstraße von Gurs entlang, und dann tauchte das Ortsschild von Navarrenx vor ihnen auf.
Endlich brach Amy das bedrückte Schweigen.
»Dir ist schon klar, dass wir es nicht jetzt gleich erledigen müssen …« Sie lächelte verständnisvoll.
»Was müssen wir nicht gleich erledigen?«
»Wir können ruhig etwas damit warten. Wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns. Vielleicht sollten wir uns lieber etwas Zeit lassen.«
»Wieso? Ich fühle mich eigentlich noch ganz frisch. Und wenn Miguel hinter uns her ist, sollten wir es lieber rasch hinter uns bringen.«
Er fragte sich, warum er das sagte. Er wusste, dass Miguel hinter ihnen her war. Wahrscheinlich war er gerade in Mauleon und erkundigte sich im Hotel nach ihnen. Bedrohlich über den Rezeptionsschalter gebeugt. Groß, grimmig, einschüchternd: Wohin ist das Englisch sprechende Paar gefahren?
»Warum hast du eigentlich nie versucht, mehr darüber herauszufinden? Über den Unfall?«
David atmete tief aus.
»Ich war jung … ich wollte mich einfach abschotten. Gegen den Schmerz. Vermutlich wollte ich es gar nicht so genau wissen.«
»Und deshalb bist du auch nie auf die Idee gekommen, dass die Karte etwas damit zu tun haben könnte.«
»Wahrscheinlich. Ja. Einfach alles leugnen. Aus meiner Erinnerung tilgen. Verdrängen. Ich wollte die Einzelheiten nicht wissen. Und die Andersons haben die Wahrheit von mir ferngehalten. Ich war erst fünfzehn - und ganz allein.«
»Irgendwie ja auch verständlich.«
»Aber jetzt will ich der Sache endlich auf den Grund gehen.«
David sah einen Mann eine Vorstadtstraße hinunterradeln und schaltete in den zweiten Gang. Am Ende der Straße stand ein rotes Auto. Er unterdrückte das klagende Duett aus Schmerz und Beklemmung.
Sie parkten am Rand des Zentrums von Navarrenx; es blieb ihnen nichts anderes übrig, denn der historische Stadtkern war für den Verkehr gesperrt. Sie schlossen das Auto ab und gingen zu Fuß weiter.
Am Rand eines menschenleeren grauen Platzes stand eine Tafel mit einem Stadtplan, demzufolge sie nicht mehr weit von der Kirche entfernt waren. Nach ein paar weiteren hundert Metern standen sie vor der eindrucksvollen Fassade von Navarrenx Saint Germain. Die Kirche war streng und grau, mit Andeutungen von Spitzbögen, die aber nicht mehr als eine verblasste Erinnerung an die Gotik waren.
Die Kirche selbst war, wie die anderen, fast leer. Unter der Kanzel stapelte ein alter Geistlicher Gebetbücher. Über seinem kahlen Kopf sah David ein Porträt an der Wand hängen. Er musste nicht näher herangehen, um die Inschrift darunter lesen zu können: Es war das gleiche Porträt wie das in Savin. Das gleiche strenge Gesicht, unnachsichtig, missbilligend, voller Tadel: Papst PiusX.
Die Kirchentür fiel knallend hinter ihnen zu. Von dem Lärm aufgeschreckt, drehte sich der Priester um - und sah David. Der Schock des Erkennens ließ sein faltiges altes Gesicht erbleichen.
David wollte auf den Geistlichen zugehen, um mit ihm zu sprechen, aber der alte Mann hatte sich bereits wieder umgedreht, um kopfschüttelnd seiner bisherigen Tätigkeit nachzugehen, fast so, als versuchte er krampfhaft, Davids Blick auszuweichen und keine Notiz von ihm zu nehmen. Er stapelte weiter seine Gebetbücher.
Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? David zerbrach sich über dieses neue Rätsel den Kopf. Oder bildete er sich das alles nur ein? Wurde er langsam, aber sicher paranoid? Und doch, er war ganz sicher, dass Miguel in diesem Moment hinter ihnen her war. Er wusste es, weil ihm sein Herzschlag pausenlos einschärfte: Be-eil-ung, Be-eil-ung, Be-eil-ung.
David betrachtete die Kirchentüren. Auch hier machte er dieselbe Beobachtung. Es gab zwei Türen.
Amy kam zu ihm.
»Also. Campan, Luz, Savin, Navarrenx. Zwei Türen. Jedes
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