Calibans Krieg
verrieten, dass sie in der niedrigen Marsschwerkraft aufgewachsen war. In den Hallen der Politik stach die körperliche Leistungsfähigkeit dieser Frau sofort ins Auge. Genau wie alle anderen sah sie aus, als hätte man sie mitten in der Nacht aus dem Bett geholt, doch ihr stand dies gut zu Gesicht. Dies konnte nützlich sein oder auch nicht, aber auf jeden Fall war es wert, nicht vergessen zu werden.
»Was haben Sie für mich?«, fragte Avasarala.
Die Marinesoldatin runzelte die Stirn.
»Ich bin zu ein paar Befehlshabern durchgedrungen. Die meisten wussten allerdings nicht einmal, wer ich bin. Wahrscheinlich habe ich mit den Erklärungen, dass ich für Sie arbeite, mehr Zeit verbracht als mit Gesprächen über Ganymed.«
»Es ist eine Lektion. Marsianische Bürokraten sind dumme, käufliche Menschen. Was haben sie gesagt?«
»Die lange oder die kurze Version?«
»Möglichst kurz.«
»Ihr habt auf uns geschossen.«
Avasarala lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Ihr tat der Rücken weh, die Knie schmerzten, und der Knoten aus Kummer und Empörung, der immer kurz unter dem Herzen saß, war größer als gewöhnlich.
»Natürlich haben wir auf sie geschossen«, sagte sie. »Was macht die Verhandlungsdelegation?«
»Abgereist«, berichtete Bobbie. »Im Laufe des morgigen Tages werden sie eine Erklärung herausgeben, dass die UN mit bösen Hintergedanken verhandelt habe. Über die genaue Formulierung streiten sie noch.«
»Wo ist der Haken?«
Bobbie schüttelte den Kopf, weil sie es nicht verstand.
»Über welche Worte streiten sie, und welche Seite will welche Worte wählen?«, fragte Avasarala.
»Das weiß ich nicht. Spielt das denn eine Rolle?«
Natürlich spielte es eine Rolle. Der Unterschied zwischen Die UN haben die Verhandlungen böswillig abgebrochen und Die UN haben uns von vornherein getäuscht bestand ein Unterschied, den man in Hunderten von Toten messen konnte. Wenn es nicht sogar Tausende waren. Avasarala versuchte, die Ungeduld herunterzuschlucken. Es fiel ihr ausgesprochen schwer.
»Also gut«, fuhr sie fort. »Sehen Sie zu, ob Sie sonst noch etwas Wichtiges für mich in Erfahrung bringen können.«
Bobbie reichte ihr das Blatt, das Avasarala entgegennahm.
»Was, zum Teufel, ist das?«, fragte sie.
»Meine Rücktrittserklärung«, sagte Bobbie. »Ich dachte, Sie wollen die Formalitäten gleich erledigen. Wir sind jetzt im Krieg, deshalb kehre ich zurück und melde mich für einen neuen Einsatz.«
»Wer hat Sie zurückgerufen?«
»Bis jetzt noch niemand«, räumte Bobbie ein. »Aber …«
»Wollen Sie sich bitte setzen? Wenn ich mit Ihnen rede, fühle ich mich, als würde ich unten in einem Brunnenschacht stehen.«
Die Marinesoldatin gehorchte. Avasarala holte tief Luft.
»Wollen Sie mich töten?«, fragte die Politikerin. Bobbie blinzelte überrascht, doch ehe sie antworten konnte, hob Avasarala die Hand und hieß sie schweigen. »Ich bin einer der wichtigsten Vertreter der UN. Wir sind im Krieg. Wollen Sie mich töten?«
»Ich … das muss ich wohl, oder?«
»Nein, müssen Sie nicht. Sie wollen herausfinden, wer Ihre Männer umgebracht hat, und Sie wollen die Politiker daran hindern, das Getriebe mit dem Blut von Marinesoldaten zu schmieren. Und verdammt will ich sein, wissen Sie was? Das will ich auch.«
»Aber ich bin Marinesoldat im aktiven Dienst«, wandte Bobbie ein. »Wenn ich bleibe und für Sie arbeite, begehe ich Verrat.« Es klang nicht so, als wollte sie klagen oder anklagen.
»Man hat Sie nicht zurückgerufen«, erinnerte Avasarala sie. »Und das wird man auch nicht tun. In Kriegszeiten sind die diplomatischen Kontakte für Sie und für uns auf sehr ähnliche Weise geregelt. Es sind zehntausend Seiten Kleingedrucktes. Wenn Sie jetzt Befehle bekommen, kann ich so viele Rückfragen und Bitten um Klärung absenden, bis Sie hier auf dem Stuhl an Altersschwäche sterben. Falls Sie für den Mars einfach nur jemanden töten wollen, finden Sie kein besseres Ziel als mich. Wenn Sie den verdammten idiotischen Krieg beenden und herausfinden wollen, wer wirklich dahintersteckt, dann kehren Sie an Ihren Schreibtisch zurück und finden Sie heraus, wer welche Formulierung benutzen will.«
Bobbie schwieg eine Weile.
»Sie meinten das natürlich rhetorisch«, sagte sie schließlich, »aber es wäre in gewisser Weise ganz richtig, Sie zu töten. Und ich bin dazu fähig.«
Ein kleiner Schauder lief über Avasaralas Rücken, doch sie ließ sich nichts anmerken.
»Ich will versuchen,
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