Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
mit dem Papier in ihrem Schritt zu schaffen, wobei sie die ganze Zeit vor sich hin ächzte. Dann ließ sie den Mantel wieder los und begann, den Inhalt des Zeitungspapiers zu untersuchen, ihn mit dem Fingernagel zu bearbeiten, daran zu riechen und ihn genauestens zu betrachten. Schließlich faltete sie das Papier zusammen und steckte es in die Tasche. Mich schauderte vor Ekel.
Eine weitere abstoßende Eigenschaft von Mrs Jenkins war der braune Fleck in ihrem Gesicht, genau zwischen ihrer Nase und ihrer Oberlippe, der in den Falten um ihre Mundwinkel herum festzusitzen schien. Da ich ihre Angewohnheiten beim Toilettengang bereits kannte, kann man sich meine Vermutung, worum es sich bei dem braunen Fleck handelte, leicht vorstellen. Aber ich irrte mich. Als ich sie besser kennenlernte, fand ich heraus, dass Mrs Jenkins Schnupftabak nahm (sie nannte ihn ihren »Trost«) und der braune Fleck entstand, wenn ihr der Tabak aus der Nase rutschte.
Es verwundert nicht, dass die Ladenbesitzer sich weigerten, sie zu bedienen. Ein Lebensmittelhändler erzählte mir einmal, dass er sie draußen bediene, aber nicht in den Laden lasse.
»Sie packt mir ’s ganze Obst an. Sie betatscht mir die Pflaumen un die Tomaten und legt sie dann zurück. Dann will sie keiner mehr kaufen. Ich hab hier mein Geschäft zu führn un kann sie hier drin nich brauchen.«
Mrs Jenkins war ein echtes »Original«, man kannte nur ihren Namen und mied, fürchtete und verspottete sie, aber sie blieb ein Mysterium.
Eines Tages bat ein Arzt, der vertretungsweise in Limehouse arbeitete, die Schwestern um einen Hausbesuch in der Cable Street im Stadtteil Stepney. Es war dieselbe berüchtigte Rotlichtgegend, die ich während meiner kurzen Freundschaft mit dem irischen Mädchen Mary erkundet hatte. Der Arzt berichtete von einer älteren Frau mit einer leichten Angina, die in fürchterlichen Verhältnissen lebte und wahrscheinlich an Unterernährung litt. Der Name der Patientin war Mrs Jenkins.
Ich bog von der Commercial Road in Richtung Fluss ab und fand die besagte Straße. Es war nur noch etwa ein halbes Dutzend Häuser erhalten, der Rest bestand aus zerbombten Grundstücken, auf denen sich hier und da noch kantige Mauerreste erhoben. Ich fand ihre Adresse und klopfte an. Stille. Ich drehte am Türknauf, weil ich erwartete, dass die Tür offen stand, aber es war abgeschlossen. Ich ging am Haus entlang, wo alles voller Dreck lag, doch eine dicke Schmutzschicht bedeckte die Fenster, sodass ich nicht hindurchsehen konnte.
Eine Katze rollte sich genüsslich auf den Rücken, eine andere beschnupperte einen Haufen Müll. Ich ging wieder zur Haustür zurück und klopfte mehrmals, diesmal lauter. Glücklicherweise war es Tag. Es war nicht die Gegend, in der man sich nach Einbruch der Dunkelheit allein aufhalten sollte. Ein Fenster im Haus gegenüber öffnete sich und eine Frauenstimme rief: »Was wolln Sie denn?«
»Ich bin die Bezirkskrankenschwester und komme wegen Mrs Jenkins.«
»Schmeißen Sie ’n Stein ans Fenster im zweiten Stock«, riet mir die Frau.
Überall lagen Steine und ich kam mir vor wie der letzte Depp, als ich in meiner Schwesterntracht mit meiner schwarzen Tasche zu meinen Füßen dastand und Steine zum zweiten Stock hinaufwarf. Wie um alles in der Welt ist der Arzt bloß hineingekommen, fragte ich mich.
Schließlich, etwa zwanzig Steine später, von denen ein paar danebengegangen waren, öffnete sich ein Fenster und eine Männerstimme mit starkem ausländischem Akzent rief: »Sie alte Frau besuchen? Ich komm.«
Riegel wurden zurückgeschoben, und als die Tür sich öffnete, stand der Mann so weit dahinter, dass ich ihn nicht erkennen konnte. Er deutete den Flur entlang auf eine Tür am Ende und sagte: »Wohnt da.«
Der Boden des Flurs bestand aus viktorianischen Fliesen, an seiner Seite führte eine Treppe mit schön geschnitztem Eichenholzgeländer nach oben. Es war noch in gutem Zustand, doch die Treppe selbst war brüchig und sah höchst gefährlich aus. Ich war froh, sie nicht benutzen zu müssen. Das Haus war offenbar Teil einer gehobenen alten Siedlung aus der Regencyzeit, doch nun stand es kurz vor dem endgültigen Verfall. Es war schon zwanzig Jahre zuvor als »menschenunwürdige Unterkunft« eingestuft worden und doch lebten immer noch Menschen hier, im Verborgenen und mitten zwischen den Ratten.
Nichts war zu hören, nachdem ich angeklopft hatte, also drehte ich den Türknauf und trat ein. Das Zimmer war ursprünglich die
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