Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
war. Wenn Doris abends vom Feld zurückkam, um das Essen für ihre Familie zu kochen, war sie müde, doch zugleich voller Lebensfreude. Anschließend setzte sie sich zu den Leuten, die am Feuer saßen. In diesem Jahr gab es neue Lieder. Nie zuvor hatte sie den Gesang der Karibischen Inseln mit seiner Mischung aus Schönheit und Tragik gehört und er weckte tief verborgene Sehnsüchte in ihr. Sie sang Refrains und Kanons mit und entdeckte dabei an sich ein Gespür für Musik, von dem sie bislang nichts geahnt hatte. Cyril hingegen hatte für die Musik nicht viel übrig und nichts auf der Welt hätte ihn dazu bewegen können, selbst den Mund aufzumachen. Also gesellte er sich zu einer Gruppe an einem anderen Feuer, wo die Jungs mehr nach seinem Geschmack waren.
Die Zeit vergeht im Flug, wenn das Leben Spaß macht, und so nahm am Ende der zwei Wochen niemand gerne Abschied. Doch die Zeit war vorbei und alle waren sich einig, dass es die besten Ferien ihres Lebens gewesen waren und sie sich im nächsten Jahr wiedersehen wollten. Die Kinder weinten bei der Abfahrt.
Der Alltagstrott aus Arbeit, Schule, Nachbarn und Tratsch begann von Neuem, und allmählich verblassten die Erinnerungen an die Ferien in Kent zum Traum.
Niemand wunderte sich, als Doris beim Weihnachtsfest verkündete, dass sie wieder schwanger sei. Sie war erst achtunddreißig und mit fünf Kindern galt ihre Familie nicht als groß. Man schlug Cyril auf die Schulter, nannte ihn einen echten Kerl und wünschte den beiden alles Gute.
Eines Morgens in der Frühe setzten die Wehen ein. Cyril rief uns auf seinem Weg zur Arbeit an. Doris schaffte es noch, die Kinder zu wecken und zur Schule zu schicken, dann passte eine Nachbarin für eine Weile auf sie auf. Ich traf gegen halb zehn ein und fand alles in bester Ordnung vor. Das Haus war sauber und aufgeräumt. Einwandfreie Babysachen lagen bereit. Alles, worum wir üblicherweise baten – heißes Wasser, Seife und so weiter –, stand bereit. Doris war ruhig und heiter. Die Nachbarin ging, als ich ankam, und sagte, sie schaue später wieder vorbei. Die Entbindung verlief ohne besondere Ereignisse und dauerte nicht lange.
Um zwölf Uhr mittags brachte sie einen kleinen Jungen zur Welt, der unübersehbar schwarze Haut hatte.
Ich war selbstverständlich die Erste, die ihn zu Gesicht bekam, und ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Nachdem ich die Nabelschnur durchtrennt hatte, wickelte ich ihn in ein Handtuch und legte ihn in die Wiege, um mich der dritten Geburtsphase zuzuwenden. So hatte ich ein wenig Zeit zum Nachdenken: Sollte ich etwas sagen? Was überhaupt? Oder sollte ich ihr einfach das Baby geben, sodass sie es selbst sah? Ich entschied mich für die zweite Lösung.
Die dritte Geburtsphase dauert für gewöhnlich mindestens fünfzehn bis zwanzig Minuten, also nahm ich das Baby und legte es Doris in die Arme.
Sie schwieg lange und sagte dann: »Er is echt ’n Schöner. Er is so hübsch, ich könnt grad heulen.«
Dann stiegen ihr stumme Tränen in die Augen und liefen die Wangen hinab. Sie weinte in sich hinein und drückte das Baby an sich.
»Oh, er is so schön. Ich habs nich gewollt, aber was konnt ich denn tun? Un was soll ich jetz nur machen? Er is das hübscheste Baby, das ich je gesehn hab.«
Sie konnte nicht weitersprechen, so sehr musste sie weinen.
Diese unerwartete Wendung nahm mich sehr mit, aber ich musste mich um meine Arbeit kümmern. Ich sagte: »Also, die Plazenta wird gleich herauskommen. Lassen Sie mich das Baby für ein paar Minuten in seine Wiege zurücklegen, dann bringen wir die Entbindung zu Ende und machen Sie ein bisschen sauber. Danach können wir uns unterhalten.«
Sie ließ mich das Baby nehmen und schon zehn Minuten später war alles überstanden.
Ich legte den kleinen Jungen zurück in ihre Arme und räumte still auf. Ich hielt es für besser, das Gespräch nicht selbst zu beginnen.
Sie lag ruhig da und hielt ihn eine ganze Weile, küsste ihn und schmiegte sich mit ihrem Gesicht an seines. Sie nahm seine Hand, bog seinen Arm und sagte: »Schaun Sie, zumindest die Fingernägel sind weiß.«
War das eine Art Aufschrei der Hoffnung? Dann fuhr sie fort: »Was mach ich jetz bloß? Schwester, was kann ich nur tun?«
Sie heulte vor Verzweiflung und Seelenqual und drückte das Baby voll leidenschaftlicher Mutterliebe an sich. Sie konnte nicht mehr sprechen, sondern seufzte nur noch und wiegte den kleinen Jungen in den Armen.
Ihre Frage konnte ich nicht
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