Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
ist der Vater. Er würde das Baby doch sehen wollen. Er würde fragen, warum es gestorben ist.«
»Er darf das Baby nich sehn«, sagte Flo mit weniger fester Stimme. »Er muss glauben, es is tot und schon begraben.«
»Das ist doch lachhaft«, sagte ich. »Wir sind nicht mehr im letzten Jahrhundert. Wenn ich ein lebendiges Kind zur Welt bringe, dann muss ich meinen Bericht schreiben und der geht dann an die Gesundheitsbehörden. Das Baby kann nicht einfach sterben oder verschwinden. Jemand muss dafür geradestehen.«
In diesem Moment kam wieder eine Wehe und unterbrach unsere Diskussion. Meine Gedanken rasten. Die beiden waren doch verrückt, alle beide. Durch vernünftige Argumente nicht zu erreichen.
Die Wehe ebbte ab. Auch Flo hatte verzweifelt nachgedacht und Pläne geschmiedet. »Dann gehen Sie jetzt weg. Sagen Sie, Sie hätten zu einer anderen Patientin gemusst oder so. Ich kann das Baby selber zur Welt bringen un ich muss keinen Scheißbericht bei irgendeinem Scheißamt abliefern. Ich kann das Baby dann wegbringen, wenns geboren is, un keiner wird je erfahren, wos geblieben is. Un Tom wirds nich zu Gesicht kriegen.«
Dieser Vorschlag traf mich wie ein Hammer und mir wurde schwindelig. »Das kann ich auf keinen Fall machen. Hebamme ist mein Beruf, ich bin ausgebildet und registriert. Und Bella ist meine Patientin. Ich kann sie nicht einfach in der ersten Geburtsphase hier liegen lassen und sie jemandem ohne jede Ausbildung übergeben. Meinen Bericht muss ich trotzdem abliefern. Was soll ich denn den Schwestern sagen? Ich muss doch für das, was ich tue, Rechenschaft ablegen.«
Wieder kam eine Wehe. Bella schrie: »Oh stopp. Lasst es nich raus. Lasst mich sterben. Was wird er nur sagen? Er bringt mich um!«
Ihre Mutter sagte kühn: »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Er wirds nie sehen. Deine Mum wirds für dich schon loswerden.«
»Das geht aber nicht«, rief ich. Ich merkte, wie ich selbst hysterisch wurde. »Wenn ein Baby lebend zur Welt kommt, kann man es nicht einfach ›loswerden‹. Wenn ihr irgendetwas in der Richtung versucht, habt ihr die Polizei am Hals. Ihr begeht eine Straftat und dann ist die ganze Situation nur noch schlimmer.«
Flo betrachtete die Sache nun etwas nüchterner: »Es muss halt adoptiert werden.«
»Das schon eher«, sagte ich. »Aber selbst dann muss das Baby registriert werden, Adoptionsunterlagen müssen ausgestellt werden und beide Eltern müssen unterschreiben, dass sie ihr Einverständnis geben. Tom denkt, dass es sein Baby ist. Ihr könnt es nicht vor ihm verstecken und ihm dann sagen, dass er sein Baby mit seiner Unterschrift zur Adoption freigeben soll. Da stimmt er doch nie zu.«
Bella begann wieder zu schreien. Meine Güte, wie hoch muss ihr Blutdruck sein, dachte ich. Vielleicht bekommt die Großmutter bei diesem Trauma in der zweiten Geburtsphase noch ihren Willen und das Baby stirbt tatsächlich! Ich nahm mein Stethoskop, um nach den Herztönen zu hören. Bella musste meine Gedanken gelesen haben. Sie schob es weg.
»Lass es sein. Ich will doch, dass es stirbt, kapierst du das nich?«
»Ich muss den Arzt anrufen«, sagte ich. »Hier kann jetzt alles Mögliche passieren und ich brauche Hilfe.«
»Wag das nich«, knurrte mich Flo an. »Keiner darfs wissen – kein Arzt. Ich muss es irgendwie loswerden.«
»Damit fangen wir erst gar nicht wieder an«, rief ich. »Ich brauche einen Arzt und ich rufe jetzt einen an.«
Schnell wie der Blitz stand Flo vor mir. Sie schnappte sich die OP -Schere aus meinem Entbindungsbesteck, lief ins Nebenzimmer und schnitt das Telefonkabel durch. Sie sah mich triumphierend an.
»So. Jetzt kannste runter auf die Straße gehen und deinen Arzt anrufen.«
Das kam mir nicht in den Sinn. Die zweite Phase stand kurz bevor. Das Baby konnte in meiner Abwesenheit zur Welt kommen und dann käme ich zurück, nur um festzustellen, dass man es ›losgeworden‹ war.
Eine weitere Wehe kam. Offenbar presste Bella. Sie schrie immer noch hysterisch, aber es war ganz offensichtlich, dass sie presste. Flo heulte auf.
»Ruhe«, sagte ich mit kalter, fester Stimme. »Seien Sie still und gehen Sie raus.«
Sie schaute verdutzt, hörte aber auf zu schreien.
»So, Sie gehen jetzt sofort raus hier. Ich muss ein Baby zur Welt bringen und das kann ich nicht, wenn Sie dabei sind. Raus jetzt.«
Sie rang nach Luft und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie besann sich, ging hinaus und schloss hinter sich leise die Tür.
Ich wandte mich Bella zu.
Weitere Kostenlose Bücher